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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Mann gewesen, der sein ganzes Leben dem Marxismus-Leninismus gewidmet habe, der bei der Planung der brüderlichen Hilfeleistung in der Tschechoslowakei und in Afghanistan mitgewirkt habe. Was für eine Gnade, daß er nicht mehr mitzuerleben brauche, wie alles weggeworfen werde. Das Verfassen des Artikels über Jepischew im Buch der Helden sei ein Privileg gewesen, und wenn das Buch heute von niemandem mehr gelesen werde – tja, das sei genau das, was er gemeint habe. Das Land sei seiner Geschichte beraubt worden.
    »Und hat Jepischew über Stalins Papiere dieselbe Geschichte erzählt wie Wolkogonow?«
    »Ja. Gegen Ende hat er offener gesprochen. Er war häufig krank. Ich habe ihn in der Klinik für Parteiführer besucht. Breschnew und er wurden dort beide von dem parapsychologischen Heiler Dawitaschwili behandelt.«
    »Er hat wohl keine Papiere hinterlassen.«
    »Papiere? Männer wie Jepischew hinterlassen keine Papiere.«
    »Irgendwelche Verwandten?«
    »Nicht, daß ich wüßte. Über familiäre Dinge haben wir nie gesprochen.« Mamantow betonte die Worte, als wäre das ein absurder Gedanke. »Wußten Sie, daß es zu Alexejs Aufgaben gehört hatte, Berija zu verhören? Nacht für Nacht. Können Sie sich vorstellen, was für eine Plackerei das war? Aber Berija ist nicht zusammengebrochen, kein einziges Mal während fast eines halben Jahrs, außer ganz zum Schluß, nach seinem Prozeß, als sie ihn auf das Brett schnallten, um ihn zu erschießen. Er war überzeugt gewesen, daß sie es nicht wagen würden, ihn zu töten.«
    »Was meinen Sie damit, er ist zusammengebrochen?«
    »Er hat gesungen wie ein Kanarienvogel«, sagte Mamantow. Berija habe etwas über Stalin gebrüllt und etwas über einen archangel, einen Erzengel. Ob Kelso sich das vorstellen könne? Daß ausgerechnet Berija religiös wurde? »Aber dann haben sie ihm ein Tuch in den Mund gestopft und ihn erschossen. Mehr weiß ich nicht.« Mamantow klappte das Album behutsam zu und stellte es wieder in das Regal. »So«, sagte er und drehte sich zu Kelso um, »jemand hat Sie also aufgesucht. Wann war das?«
    Kelso war sofort auf der Hut. »Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen.«
    »Und er hat Ihnen von Stalins Papieren erzählt? Es war doch ein Mann, oder? Ein Augenzeuge aus jener Zeit?«
    Kelso zögerte.
    »Name?«
    Kelso lächelte und schüttelte den Kopf. Mamantow schien sich einzubilden, er wäre in die Lubjanka zurückgekehrt.
    »Sein Beruf?«
    »Auch das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Weiß er, wo diese Papiere sind?«
    »Vielleicht.«
    »Hat er angeboten, sie Ihnen zu zeigen?«
    »Nein.«
    »Aber Sie haben ihn gebeten, sie Ihnen zu zeigen?«
    »Nein.«
    »Sie sind ein sehr enttäuschender Historiker, Dr. Kelso. Ich war immer der Ansicht, Sie wären berühmt für Ihren Eifer…«
    »Wenn Sie es genau wissen wollen – er ist verschwunden, bevor ich die Gelegenheit dazu hatte.«
    Er bedauerte sofort, das gesagt zu haben.
    »Was soll das heißen:›… er ist verschwunden‹?«
    »Wir haben getrunken«, murmelte Kelso. »Ich habe ihn eine Minute lang allein gelassen. Als ich zurückkam, war er fort.«
    »Fort?« Mamantows Augen waren so grau wie der Winter.
    »Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
    »Wladimir Pawlowitsch«, sagte Kelso, der Mamantows Blick standhielt, »ich versichere Ihnen, das ist die Wahrheit.«
    »Sie lügen. Weshalb? Weshalb?« Mamantow rieb sich das Kinn. »Ich glaube, der Grund dafür ist, daß Sie das Notizbuch haben.«
    »Fragen Sie sich selbst! Wenn ich das Notizbuch hätte, wäre ich dann hier? Säße ich dann nicht in der ersten Maschine zurück nach New York? Würden das Diebe nicht so tun?«
    Mamantow starrte ihn noch ein paar Sekunden lang an, dann wendete er den Blick ab. »Wir müssen diesen Mann unbedingt finden.«
    Wir…
    »Ich glaube nicht, daß er gefunden werden möchte.«
    »Er wird sich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.«
    »Das bezweifle ich.« Kelso wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich verschwinden. Er hatte das Gefühl, sich irgendwie kompromittiert, sich zu Mamantows Komplizen gemacht zu haben. »Außerdem fliege ich morgen nach Amerika zurück. Was, wenn ich mir’s recht überlege, bedeutet, daß ich jetzt wirklich…«
    Er bewegte sich auf die Tür zu, aber Mamantow versperrte ihm den Weg. »Sind Sie aufgewühlt, Dr. Kelso? Spüren Sie die Kraft des Genossen Stalin, sogar noch aus dem Grab heraus?«
    Kelso lachte. »Ich glaube, ich kann Ihre… Besessenheit nicht ganz teilen.«
    »Erzählen Sie

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