Aurora
den Korridor entlang, der neben der Treppe in die Dunkelheit hineinführte, oder zu einer der drei Türen zu seiner Rechten. Einen Augenblick lang lähmte ihn die Qual der Wahl. Die Treppe direkt vor ihm schien das Nächstliegende zu sein – und vielleicht wollte er sich unbewußt auch den Vorteil der Höhe sichern, um über den Leuten zu sein, die sich vielleicht im Erdgeschoß aufhielten, oder mindestens auf der gleichen Ebene mit ihnen, falls sie bereits nach oben gegangen waren.
Die Stufen waren aus Stein. Er trug braune Wildlederschuhe mit Ledersohlen, die er vor Jahren in Oxford gekauft hatte, und seine Tritte hörten sich wie Pistolenschüsse an, so behutsam er auch aufzutreten versuchte. Aber das war vielleicht auch gut so. Er war immerhin kein Einbrecher, und um dieser Tatsache Nachdruck zu verleihen, rief er noch einmal: Privet? Kto tarn? Hallo? Ist da jemand? Die Treppe wand sich nach rechts. Inzwischen hatte er einen günstigen, hohen Aussichtspunkt erreicht. Er schaute hinunter in den dunkelblauen Brunnenschacht der Diele, in den von der offenen Tür ein Lichtstrahl in einem helleren Blau einfiel. Er erreichte das obere Ende der Treppe und gelangte auf einen breiten Flur, der sich nach rechts und nach links erstreckte und an beiden Enden in rembrandtscher Düsternis verschwand. Vor ihm war eine Tür. Er versuchte, sich zu orientieren. Die mußte zu dem Zimmer über dem Haupteingang führen, dem mit dem eisernen Balkon.
Was war es? Ein Ballsaal? Das Schlafzimmer des Hausherrn? Der Fußboden des Korridors bestand aus Parkett, und Kelso erinnerte sich an Rapawas Beschreibung der feuchten Fußabdrücke auf dem polierten Holz, als Berija davoneilte, um Malenkows Anruf entgegenzunehmen.
Kelso öffnete die schwere Tür, und die abgestandene Luft prallte gegen ihn wie eine Mauer. Er mußte sich ganz schnell Mund und Nase zuhalten, um nicht würgen zu müssen. Der Geruch, der das ganze Haus durchdrang, schien von hier auszugehen. Es war ein großes Zimmer, kahl, durch drei große Fenster – hohe Rechtecke aus milchigem Grau – an der gegenüberliegenden Wand erhellt. Er bewegte sich auf sie zu. Der Fußboden schien mit winzigen schwarzen Hülsen übersät zu sein. Kelso wollte die Gardinen aufziehen, um mehr Licht ins Zimmer fallen zu lassen, damit er sehen konnte, worauf er trat. Aber als seine Hand das grobe Nylonnetz berührte, schien sich das Material aufzulösen und herunterzurieseln. Ein Schauer aus schwarzen Körnchen prasselte auf seine Hand und landete in seinem Genick. Er zog noch einmal an der Gardine, und aus dem Schauer wurde eine Kaskade, ein Wasserfall aus toten geflügelten Insekten. Millionen mußten im Laufe des Sommers hier ausgeschlüpft und in dem hermetisch abgeschlossenen Raum gestorben sein. Es ging ein papierartiger, saurer Geruch von ihnen aus. Sie hingen in seinen Haaren. Er konnte spüren, wie sie unter seinen Füßen knirschten. Er trat zurück, klopfte sich hektisch ab und schüttelte den Kopf.
Unten in der Diele rief ein Mann: Kto idjot? Ist jemand da oben?
Kelso war sich eigentlich im klaren darüber, daß er den Ruf hätte erwidern müssen. Welchen besseren Beweis hätte er für seine harmlosen Absichten – seine Unschuld liefern können, als sofort ins Treppenhaus zurückzukehren, seinen Namen zu nennen und sich zu entschuldigen? Es tue ihm sehr leid. Die Tür habe offengestanden. Dies sei aber auch ein interessantes altes Haus. Er sei nämlich Historiker. Die Neugierde habe die Oberhand über ihn gewonnen. Und schließlich gebe es hier ja auch nichts zu stehlen. Es tue ihm wirklich leid.
Kelso malte sich diese Alternative nur aus. Er machte keinen Gebrauch von ihr. Es war nicht so, daß er sich bewußt entschieden hätte, keinen Gebrauch von ihr zu machen. Er tat lediglich gar nichts, was ja auch eine Form von Entscheidung war. Er stand einfach reglos da, offenbar in Lawrenti Berijas damaligem Schlafzimmer, halb geduckt, als könnte das Knarren seiner Knochen ihn verraten, und lauschte. Mit jeder Sekunde, die verging, schwanden seine Chancen, sich herausreden zu können, um wieder nach draußen zu gelangen. Der Mann begann die Treppe hinaufzusteigen. Er kam sieben Stufen herauf – Kelso zählte mit –, dann blieb er stehen und rührte sich etwa eine Minute lang nicht mehr.
Dann ging er wieder hinunter, durchquerte die Diele und ging zur Haustür hinaus.
Erst jetzt bewegte sich Kelso wieder. Er ging ans Fenster und stellte fest, daß er, ohne die Gardine zu
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