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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sich nur eingebildet. Er ermahnte sich, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. Er sollte sich lieber auf die Suche nach einem Werkzeug machen, um von hier verschwinden zu können. Aber dann blitzte das Licht wieder auf, wie das Feuer eines Leuchtturms – erst schwach, dann stark, dann wieder schwach. Es sah so aus, als ob jemand, der eine starke Taschenlampe in der Hand hielt, sie gegen den Uhrzeigersinn herumschwenkte, auf das Fenster zu und dann wieder zurück in die Dunkelheit des Zimmers.
    Der argwöhnische Wachmann war zurückgekehrt.
    »O Gott.« Kelsos Lippen waren so verkrampft, daß er seinen Atem kaum zu dieser einen Silbe formen konnte. »O Gott, o Gott, o Gott.«
    Er rannte den Pfad entlang auf das Gewächshaus zu. Die klapprige Tür ließ sich gerade so weit öffnen, daß er durchschlüpfen konnte. Wegen der Pflanzen, die es überwucherten, war es drinnen noch dunkler als draußen. Arbeitsplatten lagen auf Böcken, eine alte Wanne stand herum, leere Aussaatkästen, Tontöpfe – aber nichts Brauchbares, einfach nichts. Er tastete sich einen schmalen Gang entlang, irgendwelche Blätter wischten über sein Gesicht, und dann stieß er gegen ein riesiges Objekt aus Metall. Ein alter, runder Ofen aus Gußeisen. Und daneben ein Haufen ausrangierter Werkzeuge – Schaufel, Schütte, Kohlensieb, Schüreisen. Schüreisen.
    Er zwängte sich mit seiner Beute in der Hand wieder auf den Pfad hinaus und rammte das Schüreisen in den Spalt zwischen der Gartenpforte und dem Rahmen, direkt über dem Schloß. Er stemmte sich dagegen und hörte ein Knacken. Das Schüreisen kam frei. Er rammte es erneut hinein und stemmte sich wieder dagegen. Noch ein Knacken. Er setzte das Eisen jetzt tiefer an. Der Rahmen splitterte.
    Er trat ein paar Schritte zurück und warf sich mit aller Kraft gegen die Pforte. Mit einer Macht, die über das Physische hinauszugehen schien – eine Verschmelzung aus Willenskraft und Angst und Wunschdenken –, wurde er durch die Pforte hinausbefördert, aus dem Garten heraus und hinein in die stille Leere der Straße.

6. Kapitel
    Um sechs Uhr an diesem Abend erstattete Major Felix Suworin – begleitet von Leutnant Wissari Netto – seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Chef des RT-Direktorats, Oberst Juri Arsenjew, über die Ereignisse des Tages Bericht.
    Die Atmosphäre war wie üblich entspannt. Arsenjew hatte sich schläfrig in dem Sessel hinter seinem Schreibtisch zurückgelehnt, auf dem ein Stadtplan von Moskau und ein Kassettenrecorder lagen. Suworin fläzte sich auf das Sofa neben dem Fenster. Netto bediente das Bandgerät.
    »Die erste Stimme, die Sie hören werden, Oberst«, sagte Netto zu Arsenjew, »ist die von Frau Mamantowa.« Er drückte auf PLAY.
    »Wer ist da?«
    »Christopher Kelso. Könnte ich bitte mit dem Genossen Mamantow sprechen?«
    »Ja? Wer ist da?«
    »Ich sagte es bereits. Mein Name ist Kelso. Ich spreche von einem öffentlichen Apparat aus. Es ist dringend.«
    »Ja, aber wer ist da?«
    Netto drückte auf PAUSE.
    »Arme Ludmilla Fjodorowa«, sagte Arsenjew traurig.
    »Kennen Sie sie von früher, Felix? Ich habe sie gekannt, als sie noch in der Lubjanka war. Eine tolle Frau! Ein Körper wie eine Pagode, ein rasiermesserscharfer Verstand und eine dazu passende Zunge.«
    »Das scheint jetzt aus zu sein«, sagte Suworin. »Jedenfalls, was den Verstand angeht.«
    »Die nächste Stimme«, sagte Netto, »wird Ihnen sogar noch vertrauter sein, Oberst.« PLAY.
    »Mamantow am Apparat. Wer ist da?«
    »Kelso. Dr. Kelso. Vielleicht erinnern Sie sich an mich.«
    »Ich erinnere mich an Sie. Was wollen Sie?«
    »Ich möchte mit Ihnen reden.«
    »Weshalb sollte ich mit Ihnen reden, nach dem Mist, den Sie geschrieben haben?«
    »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
    »Worüber?«
    »Über ein Notizbuch mit schwarzem Wachspapierumschlag, das einmal dem Genossen Stalin gehörte.«
    »Halten Sie den Mund.«
    »Wie bitte?«
    »Ich habe gesagt, Sie sollen den Mund halten. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Wo sind Sie?«
    »In der Nähe des Intourist-Gebäudes, auf der Mochowaja-Straße.«
    »Das ist nicht weit von hier. Kommen Sie her.« STOP.
    »Spielen Sie es noch einmal ab«, sagte Arsenjew. »Nicht Ludmilla. Den späteren Teil.«
    Durch das Panzerglas hinter Arsenjews Rücken konnte Suworin sehen, wie sich die Bürobeleuchtung im Zierteich von Jassenewo spiegelte. Er sah auch den riesigen, von Flutlicht angestrahlten Leninkopf und dahinter, kaum noch sichtbar, die dunkle Linie

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