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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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eine verblüffende Zahl. Großer Gott, wenn jeder sechste Deutsche erklärt hätte, er halte Hitler für den größten Führer, den das Land je gehabt habe, dann hätte die New York Times nicht nur einen Kommentar für die Seite drei von ihm haben wollen. Sie hätten ihn auf der Titelseite gedruckt.
    Er machte das Fenster wieder zu und suchte die Dinge zusammen, die er an diesem Abend noch benötigen würde: seine letzten beiden Schachteln zollfreie Zigaretten, seinen Paß mit dem Visum (für den Fall, daß er aufgegriffen wurde), seine dicke Brieftasche, das Streichholzheft mit der Adresse des Robotnik.
    Es hatte keinen Sinn, sich vorzumachen, daß ihm wohl in seiner Haut war, zumal nach dieser Sache in der Botschaft. Wäre Mamantow nicht gewesen, hätte er die Sache wahrscheinlich fürs erste auf sich beruhen lassen, um dann Adelmans Rat zu befolgen, erst einmal auf Nummer Sicher zu gehen und in ungefähr einer Woche wiederzukommen und nach Rapawa zu suchen, vielleicht nachdem er einen begeisterungsfähigen Verleger (falls es ein derart mythisches Geschöpf überhaupt noch gab) dazu gebracht hatte, ihm einen Auftrag zu erteilen.
    Wenn allerdings Mamantow schon auf der richtigen Spur war, konnte Kelso sich das Abwarten abschminken. Das war der Schluß, zu dem er gelangt war. Mamantow standen Mittel zur Verfügung, mit denen Kelso nicht aufwarten konnte. Mamantow war ein Sammler, ein Fanatiker.
    Und dann begann der Gedanke an ihm zu nagen, was Mamantow mit dem Notizbuch anstellen würde, falls er es als erster finden sollte. Denn je mehr Kelso über die Angelegenheit nachdachte, desto sicherer wurde er, daß das, was Stalin niedergeschrieben hatte, von Bedeutung sein mußte. Es war bestimmt nicht nur eine Ansammlung seniler Anmerkungen, nicht, wenn Berija tatsächlich so scharf darauf gewesen war, das Notizbuch an sich zu bringen, um es dann, nachdem er es gestohlen hatte, nicht etwa zu vernichten, sondern das Risiko einzugehen, es notdürftig zu verstecken.
    Er hat gesungen wie ein Kanarienvogel… etwas über Stalin gebrüllt und etwas über einen Erzengel… dann haben sie ihm ein Tuch in den Mund gestopft und ihn erschossen…
    Kelso ließ den Blick noch einmal durchs Zimmer schweifen, dann löschte er das Licht.
    Erst als er schon im Restaurant stand, wurde ihm bewußt, wie hungrig er war. Er hatte seit anderthalb Tagen keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Er aß erst Borschtsch, dann marinierten Fisch, dann Hammel in Käsecreme-Sauce. Dazu trank er Mukusani, georgischen Rotwein, und schwefelig schmeckendes Narsan-Mineralwasser. Der Wein war dunkel und schwer, und nach ein paar Gläsern – die zu dem ganzen Whisky dazukamen verspürte er langsam eine gefährliche Gelöstheit. Es saßen mehr als hundert Personen an vier großen Tischen. Das Geräusch der Unterhaltung, das Klirren und Klappern von Glas und Besteck wirkte einschläfernd. Aus den Lautsprechern drang ukrainische Volksmusik. Kelso ging dazu über, seinen Wein zu verdünnen.
    Jemand – ein japanischer Historiker, dessen Namen er nicht kannte – lehnte sich über den Tisch und fragte, ob das Stalins Lieblingswein gewesen sei, und Kelso sagte nein, Stalin habe die süßeren georgischen Weine bevorzugt, Kindsmarauli und Hwantschkara. Stalin liebte süße Weine und Schnäpse, stark gezuckerte Kräutertees und starken Tabak…
    »Und Tarzan-Filme«, sagte jemand.
    »Und das Geräusch singender Hunde…«
    Kelso stimmte in das Gelächter ein. Was hätte er sonst tun sollen? Er stieß über den Tisch hinweg mit dem Japaner an, verbeugte sich und lehnte sich dann wieder zurück, um seinen verwässerten Wein zu trinken.
    »Wer bezahlt das alles?« fragte jemand.
    »Vermutlich der Sponsor, der auch das Symposium finanziert hat.«
    »Ein Amerikaner?«
    »Ein Schweizer, habe ich gehört…«
    Die Unterhaltung um ihn herum setzte wieder ein. Nach ungefähr einer Stunde, als er glaubte, daß niemand ihn beobachtete, faltete er seine Serviette zusammen und schob seinen Stuhl zurück.
    Adelman schaute auf und sagte: »Doch nicht schon wieder? Sie können unmöglich wieder verschwinden.«
    »Der Ruf der Natur«, sagte Kelso. Als er hinter Adelman stand, beugte er sich zu ihm und flüsterte: »Wie sieht der Plan für morgen aus?«
    »Der Bus zum Flughafen startet nach dem Frühstück«, sagte Adelman. »Einchecken im Scheremetjewo um elf Uhr fünfzehn.« Er ergriff Kelsos Arm. »Haben Sie nicht gesagt, es sei alles Humbug?«
    »So ist es. Ich möchte nur

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