Aurora
gestehen, der Auszug sei ihnen nicht schwergefallen, wirklich nicht, nicht nach dieser unseligen Geschichte im Jahre 1993, wo Arbeiter zwölf menschliche Skelette zutage gefördert hatten, Opfer der stalinistischen Machenschaften, einfach unter dem Pflaster vor dem Haus verscharrt. Man hatte keine Erklärung für die Kündigung geliefert, aber wie allgemein bekannt, wurden jetzt große Areale früheren Staatseigentums privatisiert und an ausländische Investoren verkauft, um an Devisen zu kommen.
Und die Flagge? Die Flagge der Republik Tunesien, verehrter Herr, ist ein roter Halbmond und ein roter Stern in einem weißen Kreis, alles auf rotem Grund.
»…da war ein roter Halbmond und ein roter Stern…«
Derblaue Zigarettenrauch kräuselte sich zur Decke hoch und löste sich im staubigen Putz auf.
Oh, dachte er, wie gut das alles zusammenpaßte – Rapawas Geschichte und Jepischews Geschichte und das praktische Leerstehen von Berijas Haus und die frisch aufgegrabene Erde und die Bar namens »Robotnik«…
Er leerte die Flasche, drückte seine Zigarette aus und lag dann eine Weile nur da und drehte das Streichholzheft immer wieder in den Fingern herum.
Immer noch ratlos, wie es jetzt weitergehen sollte, ging Kelso hinunter zur Rezeption und tauschte seine letzten Reiseschecks in Rubel um. Er würde Bargeld brauchen, was immer auch passieren mochte. Auf eine Kreditkarte war heutzutage nicht unbedingt Verlaß – das hatte er gerade erst im Hotel-Shop erleben müssen, als er versucht hatte, mit Kreditkarte eine Flasche Scotch zu bezahlen.
Er glaubte jemanden zu sehen, der ihm bekannt vorkam – vermutlich vom Symposium –, und hob die Hand zum Gruß, aber der Mann hatte sich bereits abgewendet.
Auf dem Tresen der Rezeption stand ein Schild: JEDER GAST, DER EIN AUSLANDSGESPRÄCH FÜHREN MÖCHTE, WIRD GEBETEN, EINE KAUTION ZU HINTERLEGEN.
Kelso überkam plötzlich Heimweh. Es passierte so viel, und er konnte niemandem davon erzählen. Einer Eingebung folgend, hinterlegte er 50 Dollar und bahnte sich durch das belebte Foyer hindurch den Weg zu den Fahrstühlen.
Drei Ehen. Er sinnierte über diese beachtliche Leistung, während der Fahrstuhl himmelwärts schoß. Drei Scheidungen, und jedesmal wurde es bitterer. Wie hatte es so kommen können?
Kate – nun ja, Kate zählte kaum. Sie waren Studenten gewesen, die Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie hatte ihm danach sogar noch Weihnachtskarten geschickt, bis er nach New York umgezogen war. Irina hatte wenigstens ihren Paß bekommen, was ja der eigentliche Zweck der Sache gewesen war. Aber Margaret – die arme Margaret –, sie war schwanger gewesen, als er sie geheiratet hatte – ehrlich gesagt, war das der Grund für die Heirat –, und kaum war ein Junge angekommen, als auch schon der nächste unterwegs war. Plötzlich waren sie in der engen Wohnung in der Nähe der Woodstock Road zu viert gewesen: der Geschichtsdozent und die Geschichtsstudentin, die gegenseitig keine Geschichte verband. Die Ehe hatte zwölf Jahre gehalten – »so lang wie das Dritte Reich«, hatte Kelso einem neugierigen Klatschkolumnisten an dem Tag betrunken mitgeteilt, an dem er erfahren hatte, daß sie die Scheidung eingereicht hatte. Das hatte sie ihm nie verziehen.
Aber immerhin war sie die Mutter seiner Kinder. Maggie. Margaret. Er würde die arme Margaret anrufen.
In der Leitung rauschte es merkwürdig von dem Augenblick an, in dem die internationale Verbindung hergestellt wurde. Russische Telefone! war seine erste Reaktion. Er schüttelte den Hörer kräftig, als er auch schon das Freizeichen hörte.
»Hallo?« Die vertraute Stimme, die sich unvertraut munter anhörte.
»Ich bin’s.«
»Oh.« Flach, plötzlich tonlos. Nicht einmal feindselig.
»Tut mir leid, wenn ich dir den Tag verderbe.« Das sollte ein Scherz sein, aber es kam bitter und voller Selbstmitleid heraus. Er versuchte es noch einmal. »Ich rufe von Moskau aus an.«
»Weshalb?«
»Weshalb ich anrufe, oder weshalb ich von Moskau aus anrufe?«
»Hast du wieder getrunken?«
Er warf einen Blick auf die leere Flasche. Er hatte vergessen, daß sie imstande war, seine Fahne auch über sechstausend Kilometer Entfernung hinweg zu riechen. »Wie geht es den Jungen? Kann ich mit ihnen sprechen?«
»Es ist Dienstag vormittag. Was glaubst du, wo die gerade sind?«
»In der Schule?«
»Gut geraten, Dad.« Sie lachte unwillkürlich.
»Hör zu«, sagte er. »Es tut mir leid.«
»Und was speziell tut dir
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