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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Tschujew), oder die »schöne junge Frau mit der dunklen Haut«, die Chruschtschow einmal in Stalins Datscha gesehen hat. »Später hat man mir gesagt, sie wäre eine Hauslehrerin für Stalins Kinder«, sagte er.
    »Aber sie war nicht lange dort. Später ist sie verschwunden. Sie war auf Berijas Empfehlung hin eingestellt worden. Berija wußte, wie man Lehrerinnen auswählt…«
    »Später ist sie verschwunden…«
    Auch hier tritt das vertraute Muster zutage: Es empfahl sich nie, zuviel über Stalins Privatleben zu wissen. Einer der Männer, denen er Hörner aufgesetzt hatte, Jegorow, wurde erschossen, ein anderer, Pawel Allilujew, wurde vergiftet. Und Schenja selbst, seine Geliebte und angeheiratete Schwägerin – »die Rose der Felder von Nowgorod« –, wurde auf Stalins Befehl hin verhaftet und verbrachte eine so lange Zeit in Einzelhaft, daß sie, als sie nach seinem Tod freigelassen wurde, nicht mehr sprechen konnte – ihre Stimmbänder waren verkümmert.
    Er mußte eingeschlafen sein, denn das nächste, was in sein Bewußtsein drang, war das Läuten des Telefons.
    Das Zimmer lag immer noch im Halbdunkel. Er schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf die Uhr. Fast acht.
    Er schwang die Beine vom Bett und tat ein paar steife Schritte durch das Zimmer, bis zu dem kleinen Schreibtisch am Fenster.
    Er zögerte, dann nahm er den Hörer ab.
    Es war Adelman, der nur wissen wollte, ob er zum Dinner herunterkäme.
    »Dinner?«
    »Mein lieber Junge, es ist das große Abschiedsessen, das dürfen Sie auf keinen Fall versäumen! Olga wird einem Kuchen entsteigen.«
    »O Gott. Habe ich eine andere Wahl?«
    »Nein, die haben Sie nicht. Die Story lautet übrigens, daß Sie einen Kater von derart epischen Ausmaßen hatten, daß Sie in Ihr Zimmer zurückkehren und ihn wegschlafen mußten.«
    »Oh, das klingt gut, Frank. Vielen Dank.«
    Adelman schwieg einen Moment. »Also, was ist passiert? Haben Sie den Mann gefunden?«
    »Natürlich nicht.«
    »Es war also alles nur Humbug?«
    »Stimmt. Nichts dahinter.«
    »Es ist nur… schließlich waren Sie den ganzen Tag verschwunden…«
    »Ich habe einen alten Freund besucht.«
    »Der vermutlich eine Freundin war«, sagte Adelman.
    »Typisch Fluke. Sagen Sie, haben Sie dieselbe Aussicht wie ich?«
    Unterhalb Kelsos Zimmerfenster breitete sich eine glitzernde Nachtlandschaft aus. Leuchtreklame schwebte über der Stadt wie die Standarten einer Invasionsarmee. Philips, Marlboro, Sony, Mercedes-Benz. Früher einmal war es in Moskau nach Sonnenuntergang so dunkel gewesen wie in einer x-beliebigen Stadt im afrikanischen Dschungel. Das war jetzt vorbei.
    Nirgendwo war ein russisches Wort zu sehen.
    »Ich hätte nie geglaubt, daß ich das einmal erleben darf. Sie etwa?« Adelmans Stimme knisterte aus dem Hörer. »Das ist der Sieg, den wir vor uns sehen, mein Freund. Ist Ihnen das klar? Der totale Sieg.«
    »Glauben Sie das wirklich, Frank? Für mich sieht es nur aus wie eine Menge Lichter.«
    »O nein. Es ist mehr als nur das, glauben Sie mir. Von hier aus führt kein Weg zurück.«
    »Und als nächstes wollen Sie mir vermutlich erzählen, es wäre ›das Ende der Geschichte‹.«
    »Vielleicht ist es das. Aber Gott sei Dank nicht das Ende der Historiker.« Adelman lachte. »Wir sehen uns im Foyer. Sagen wir, in zwanzig Minuten.« Er legte auf.
    Der Scheinwerfer am gegenüberliegenden Ufer der Moskwa, in der Nähe des Weißen Hauses, strahlte grell in das Zimmer. Kelso streckte die Hand aus und öffnete den Holzrahmen des inneren Fensters und dann den des äußeren und ließ eine eigentümliche Mixtur aus gelbem Nebel und dem weißen Rauschen des fernen Verkehrs eindringen. Ein paar Schneeflocken landeten auf der Fensterbank und schmolzen.
    Das Ende der Geschichte, so ein Blödsinn, dachte er. Das war die Stadt der Geschichte. Das war das ganze verdammte Land der Geschichte.
    Er steckte den Kopf hinaus in die Kälte und versuchte, soviel wie möglich von der Stadt jenseits des Flusses zu überblicken, bevor sie sich hinter dem Horizont verlor.
    Wenn jeder sechste Russe glaubte, Stalin wäre ihr größter Führer gewesen, dann bedeutete das, daß er ungefähr zwanzig Millionen Anhänger haben mußte. (Der geheiligte Lenin hatte natürlich noch viel mehr.) Selbst wenn man diese Zahl halbierte, um an den harten Kern zu gelangen, blieben immer noch zehn Millionen. Zehn Millionen Stalinisten in der Russischen Föderation, nach vierzig Jahren Verunglimpfung?
    Mamantow hatte recht. Es war

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