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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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älter als die anderen: kurzgeschnittenes schwarzes Haar, schwarze Lidschatten, schwarzer Lippenstift, ein grellweißes Gesicht, das gleichzeitig breit und schmal war, mit Wangenknochen so scharf wie an einem Schädel. Asiatisch. Mingrelisch.
    Papu Rapawa: 1969 aus dem Lager entlassen. Hatte 1970, vielleicht 1971 geheiratet. Ein Sohn, gerade alt genug, um in Afghanistan zu kämpfen. Und eine Tochter? »Sie ist eine Hure…«
    »Gute Nacht, Professor.« O’Brian rauschte mit einem Zwinkern über die Schulter hinweg an ihm vorbei, Natalja an einem Arm, Anna am anderen. Ein Dreier. »Doch nicht ganz so anständig…« Der Rest seiner Worte ging in dem Lärm unter. Natalja drehte sich um, kicherte, warf Kelso eine Kußhand zu. Kelso lächelte flüchtig, winkte, stellte seinen Drink ab und bewegte sich an der Bar entlang.
    Ein schwarzes Cocktailkleid – glänzendes Material, knielang, ärmellos –, Hals und Arme weiß und bloß (nicht einmal eine Armbanduhr), schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe. Und etwas, das an ihr nicht ganz stimmte, eine Art Störung in der Atmosphäre um sie herum, so daß sie sogar an der vollen Bar in einem Raum für sich allein zu existieren schien. Niemand unterhielt sich mit ihr. Sie trank Mineralwasser aus der Flasche und schaute ins Leere; ihre dunklen Augen waren ausdruckslos. Als er hallo sagte, wendete sie ihm das Gesicht zu, ohne eine Spur von Interesse. Er fragte sie, ob sie gern einen Drink hätte.
    Nein.
    Ob sie tanzen wolle?
    Sie musterte ihn, dachte darüber nach, zuckte die Achseln. Okay.
    Sie leerte die Flasche, stellte sie auf den Tresen, schob sich an ihm vorbei auf die Tanzfläche, drehte sich um und wartete auf ihn. Er folgte ihr.
    Sie dachte nicht daran, ihm etwas vorzutäuschen, und das gefiel ihm an ihr. Der Tanz war lediglich ein höfliches Vorspiel zum eigentlichen Geschäft, wie ein Broker und sein Kunde, die zehn Sekunden damit verbringen, sich nach dem gegenseitigen Befinden zu erkundigen. Ungefähr eine Minute lang bewegte sie sich lässig am Rande der Tanzfläche, dann beugte sie sich vor und sagte: »Vierhundert?«
    Keine Spur von Parfüm, nur ein schwacher Duft nach Seife.
    »Zweihundert«, sagte Kelso.
    »Okay.«
    Sie verließ sofort die Tanzfläche, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er war so überrascht, daß sie nicht zu feilschen versucht hatte, daß er einen Moment allein stehenblieb. Dann folgte er ihr die Wendeltreppe hinauf. Ihre rundlichen Hüften zeichneten sich unter dem engen schwarzen Kleid ab, ihre Taille war eher dick. Ihm kam der Gedanke, daß sie in diesem Spiel nehmen mußte, was ihr angeboten wurde, daß sie es nicht riskieren konnte, Vergleiche mit Frauen herauszufordern, die acht, zehn, vielleicht zwölf Jahre jünger waren als sie. Sie nahmen ihre Mäntel schweigend entgegen. Ihrer war billig, dünn, zu kurz für die Jahreszeit.
    Sie gingen hinaus in die Kälte. Sie hängte sich bei ihm ein. Das war der Moment, in dem er sie küßte. Er war leicht betrunken, und kurzfristig dachte er tatsächlich, er könnte vielleicht Geschäft und Vergnügen miteinander verbinden. Und er war neugierig, das mußte er sich eingestehen. Sie reagierte sofort und mit mehr Leidenschaft, als er erwartet hatte. Ihre Lippen öffneten sich. Seine Zunge berührte ihre Zähne. Sie schmeckte unvermutet nach etwas Süßem. Später erinnerte er sich, gedacht zu haben, daß ihr Lippenstift vielleicht aus Süßholz hergestellt war: Gab es so was überhaupt?
    Sie löste sich von ihm »Wie heißen Sie?« fragte er.
    »Welcher Name würde Ihnen gefallen?«
    Darüber mußte er lächeln. So ein Glück: an die erste postmoderne Nutte in Moskau zu geraten. Als sie ihn lächeln sah, hob sie die Brauen.
    »Wie heißt Ihre Frau?«
    »Ich habe keine Frau.«
    »Ihre Freundin?«
    »Eine Freundin habe ich auch nicht.«
    Sie zitterte und schob die Hände tief in die Manteltaschen. Es schneite nicht mehr, und jetzt, wo sich die Metalltür hinter ihnen geschlossen hatte, war die Nacht sehr still.
    »In welchem Hotel wohnen Sie?« fragte sie.
    »Im Ukraina.«
    Sie verdrehte die Augen.
    »Hören Sie«, setzte er an, ohne sie mit Vornamen anreden zu können, was das Gespräch sicher erleichtert hätte. »Hören Sie, ich möchte nicht mit Ihnen schlafen. Oder vielmehr«, korrigierte er sich, »ich möchte es tun, aber eigentlich wollte ich etwas anderes von Ihnen.« War das verständlich?
    »Ah«, sagte sie und schaute wissend drein – jetzt sah sie zum ersten Mal tatsächlich wie eine Hure

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