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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Sie sehen?«
    »Alles.«
    »Wie Sie wollen«, sagte Blök und verschwand.
    Suworin hatte immer schon den Blick lieber nach vorn gerichtet, anstatt in der Vergangenheit zu leben – auch etwas, das er an den Amerikanern bewunderte. Was war die Alternative für ein modernes Rußland? Stillstand! Das Ende aller Geschichte hielt er plötzlich für eine einleuchtende Idee. Was ihn betraf, konnte die Geschichte nicht schnell genug enden.
    Aber selbst Felix Suworin war vor den Geistern, die diesem Ort innewohnten, nicht gefeit. Nach einer Minute stand er auf und wanderte umher. Er stellte fest, daß er, wenn er den Kopf zu dem hoch eingesetzten Fenster hochreckte, einen schmalen Streifen Nachthimmel sehen konnte und außerdem die winzigen Fenster weiter unten zu ebener Erde, die zu den alten Lubjanka-Zellen gehörten. Er dachte an Isaak Babel, der irgendwo da unten so lange gefoltert worden war, bis er seine Freunde verriet, und der dann alles widerrief, und an Bucharin und seinen letzten Brief an Stalin (»Ich empfinde Ihnen, der Partei, der Sache als Ganzem gegenüber nichts als eine große und grenzenlose Liebe: Ich umarme Sie in Gedanken, leben Sie für immer wohl…«), und an Sinowjew, der fassungslos von den Wachen fortgeschleppt wurde, um dann erschossen zu werden (»Bitte, Genossen, bitte, rufen Sie um Gottes willen Josef Wissarionowitsch an…«).
    Suworin holte sein Mobiltelefon aus der Tasche, tippte die vertraute Nummer ein und sprach mit seiner Frau.
    »Du wirst nie erraten, wo ich bin… Das ist schwer zu sagen.« Beim Klang ihrer Stimme fühlte er sich sofort wohler. »Tut mir leid wegen heute abend. Gib den Kindern einen Kuß von mir, ja?… Und einen für dich, Serafima Suworina…«
    Die Geheimpolizei stand außerhalb des Zugriffs von Zeit und Geschichte. Sie war amöbenartig. Das war ihr Geheimnis. Aus der Tscheka war die GPU geworden, dann die OGPU, dann der NKWD, dann der MGB, dann der MWD und schließlich der KGB – das höchste Stadium der Evolution. Und dann, man höre und staune, war sogar der mächtige KGB selbst durch den gescheiterten Putsch zur Mutation in zwei völlig neue Gruppen von Großbuchstaben gezwungen worden: in den SWR – die in Jassenewo stationierten Auslandsspione – und den FSB – innere Sicherheit –, immer noch hier in der Lubjanka, inmitten der Gebeine.
    Und in den höchsten Rängen des Kreml wurde die Ansicht vertreten, daß zumindest der FSB im Grunde nichts anderes war als das neueste Produkt in der langen Tradition von abgeänderten Buchstaben – daß, mit den unsterblichen Worten von Boris Nikolajewitsch selbst, geäußert gegenüber Arsenjew in der Sauna der Datscha des Präsidenten, »diese Mistkerle in der Lubjanka immer noch dieselben Mistkerle sind, die sie schon immer waren«. Und das war auch der Grund dafür gewesen, daß – nachdem der Präsident angeordnet hatte, Ermittlungen über Wladimir Mamantow anzustellen – diese Aufgabe nicht dem FSB anvertraut werden konnte, sondern dem SWR übertragen werden mußte, auch wenn dieser nicht über die erforderlichen Mittel verfügte.
    Suworin hatte nur vier Männer, um die ganze Stadt abzudecken. Er rief Wissari Netto an und erkundigte sich nach dem neuesten Stand der Dinge. Es hatte sich nichts verändert: die Haupt-Zielperson – Nummer l – war immer noch nicht in ihre Wohnung zurückgekehrt, die Frau der Zielperson – Nummer 2 – stand immer noch unter Beruhigungsmitteln, der Historiker – Nummer 3 – war immer noch in seinem Hotel und saß jetzt beim Abendessen.
    »Manche Leute haben Glück«, murmelte Suworin. Dann hörte er ein Klappern auf dem Gang. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Mit dieser Anweisung beendete er das Gespräch. Er fand, daß es das Passendste war, was man sagen konnte.
    Er hatte einen Aktenordner erwartet, vielleicht zwei. Statt dessen stieß Blök die Tür auf und rollte einen Stahlwagen herein, der mit Aktenordnern beladen war – zwanzig oder dreißig Ordner, einige davon so alt, daß ganze Staubschwaden hochflogen, nachdem Blök kurzfristig die Kontrolle über den schweren Wagen verloren hatte und gegen die Wand geprallt war.
    »Wie Sie wollen«, wiederholte er.
    »Ist das alles?«
    »Das hier geht bis 1961. Wollen Sie den Rest auch noch haben?«
    »Natürlich.«
    Er konnte sie unmöglich alle lesen. Das hätte ihn einen Monat gekostet. Er beschränkte sich darauf, an jedem Aktendeckel die Schnur zu lösen und die spröden und teilweise eingerissenen Blätter daraufhin zu

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