Aurora
inzwischen gedrängt voll, der Lärm lauter, der Qualm dichter. Das Schwarzlicht war jetzt eingeschaltet worden – Licht, das alles, was weiß war, ganz grell erscheinen ließ. Zähne, Augen, Fingernägel und Geldscheine blitzten in der Düsternis auf wie Messer. Kelso fühlte sich verwirrt und leicht betrunken, aber nicht so betrunken, dachte er, wie es O’Brian zu sein vorgab. Der Reporter hatte etwas an sich, was ihm Unbehagen bereitete. Wie alt war er? Dreißig? »Wie lange geht das hier?« fragte er Anna.
Sie hob fünf Finger. »Möchten Sie tanzen, Mister Professor?«
»Später«, sagte Kelso. »Vielleicht.«
»Es ist wie in der Weimarer Republik«, sagte O’Brian, nachdem er mit zwei Flaschen Bier und einer Dose Diätcola zurückgekehrt war. »Haben Sie nicht genau das geschrieben? Schauen Sie sich doch um. Das einzige, was noch fehlt, ist Marlene Dietrich in einem Smoking, und wir könnten ebensogut in Berlin sein. Mir hat Ihr Buch übrigens gefallen, Professor. Habe ich Ihnen das schon gesagt?«
»Haben Sie. Danke. Prost!«
»Prost.« O’Brian hob seine Flasche und trank einen Schluck, dann lehnte er sich vor und brüllte in Kelsos Ohr: »Die Weimarer Republik, so sehe ich es. Genauso, wie Sie es sehen. Sechs Dinge sind gleich, okay? Erstens, da ist ein großes Land, ein stolzes Land, das sein Imperium verloren hat, im Grunde einen Krieg verloren hat, sich aber nicht vorstellen kann, wie das passieren konnte – also glaubt es, daß ihm jemand einen Dolchstoß in den Rücken versetzt hat, also gibt es massenhaft Ressentiments, richtig? Zweitens, Demokratie in einem Land, das keinerlei demokratische Tradition hat – die Russen können Demokratie nicht von einem Loch in der Erde unterscheiden –, die Leute mögen sie nicht, haben das ganze Diskutieren satt, sie wollen eine starke Linie, irgendeine Linie. Drittens: Grenzprobleme – massenhaft Volksangehörige leben plötzlich in anderen Ländern, behaupten, dort unterdrückt zu werden. Viertens: Antisemitismus – man kann Marschlieder der SS an jeder Straßenecke kaufen. Bleiben noch zwei Punkte.«
»Und welche sind das?« Es gefiel ihm gar nicht, daß seine Ansichten von O’Brian so plump nachgeplappert wurden, als wäre er ein Tutor in Oxford.
»Wirtschaftlicher Zusammenbruch, und der wird kommen, glauben Sie nicht?«
»Und?«
»Liegt das nicht auf der Hand? Hitler. Noch haben sie ihren Hitler nicht gefunden. Aber wenn es soweit ist dann sollte die restliche Welt auf der Hut sein.« O’Brian legte den linken Zeigefinger auf die Oberlippe und hob den rechten Arm zum Nazigruß. Eine Gruppe von russischen Geschäftsleuten auf der anderen Seite der Bar johlte und applaudierte.
Danach verging der Abend wie im Flug. Kelso tanzte mit Anna, O’Brian tanzte mit Natalja, sie genehmigten sich weitere Drinks. Der Amerikaner blieb bei Bier, während Kelso die Cocktails ausprobierte – B-52s, Kamikazes –, sie tauschten die Frauen, tanzten noch ein bißchen, und dann war es auch schon nach Mitternacht. Natalja trug ein leuchtendrotes Kleid, das sich so glitschig anfühlte, als wäre es aus Plastik, und das Fleisch darunter fühlte sich trotz der Hitze kalt und hart an. Sie hatte irgend etwas eingeworfen. Ihre Augen waren weit geöffnet und hatten Mühe, etwas zu fixieren. Sie fragte ihn, ob sie irgendwo hingehen wollten – er gefalle ihr sehr, flüsterte sie, sie würde es für fünfhundert tun, aber er gab ihr nur fünfzig, praktisch als Entlohnung für den Tanz, und kehrte an die Bar zurück.
Depression umlauerte ihn. Weshalb, vermochte er nicht zu sagen. Er konnte Verzweiflung riechen, das war es: Verzweiflung roch ebenso stark wie die Parfüms und der Schweiß. Die Verzweiflung, kaufen zu müssen. Die Verzweiflung, verkaufen zu müssen. Die Verzweiflung, so zu tun, als genieße man den Abend. Ein junger Mann in einem Anzug, so betrunken, daß er kaum noch gehen konnte, wurde von einer Frau, die ein hartes Gesicht und lange blonde Haare hatte, an der Krawatte fortgeschleift. Kelso dachte, daß er an der Bar noch eine Zigarette rauchen und dann gehen würde – nein, dachte er dann, vergiß die Zigarette –, er steckte sie in die Schachtel zurück – er würde jetzt gehen.
»Rapawa«, brüllte der Barmann.
»Wie bitte?« Kelso hielt die Hand ans Ohr.
»Dort. Das ist sie.«
»Was?«
Kelso schaute in die Richtung, in die der Barmann zeigte, und sah sie sofort. Sie. Er ließ seinen Blick über sie hinwegwandern und dann zurückkehren. Sie war
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