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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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dadurch nur in ein weiteres Schlagloch. Hinter den Bäumen konnte er undeutlich die Eingänge und Treppenhäuser eines riesigen Wohnkomplexes erkennen, die in ein orangefarbenes Licht getaucht waren.
    Sie verlangsamte die Fahrt jetzt bis fast auf Schrittempo. Dann hielt sie neben einer baufälligen Bushaltestelle an.
    »Dort wohnt er«, sagte sie. »Block Nummer neun.«
    Es war ein Weg von ungefähr hundert Metern, über einen verschneiten Streifen Ödland.
    »Und Sie warten hier?«
    »Eingang D. Vierter Stock. Wohnung zwölf.«
    »Aber Sie werden warten?«
    »Wenn Sie wollen.«
    »Das war so abgemacht.«
    Kelso sah auf die Uhr. Es war fünfundzwanzig Minuten nach eins. Dann betrachtete er wieder den Wohnblock, überlegte, was er zu Rapawa sagen sollte, fragte sich, welchen Empfang dieser ihm bereiten würde.
    »Hier sind Sie also aufgewachsen?«
    Sie antwortete nicht. Sie schaltete den Motor aus und schlug den Kragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und starrte geradeaus. Er seufzte, stieg aus und ging um den Wagen herum. Der Pulverschnee knirschte unter seinen Füßen. Er fröstelte, während er sich den Weg durch das unebene Gelände bahnte.
    Er hatte ungefähr die halbe Strecke zurückgelegt, als er einen Anlasser und dann das Anspringen eines Motors hörte. Er fuhr herum und sah, wie der Lada langsam mit ausgeschalteten Scheinwerfern davonfuhr. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, so lange zu warten, bis er außer Sicht war. Miststück. Er rannte ihr nach. Er rief allerdings nicht laut und im Grunde auch nicht wütend: Es war mehr aus Ärger über die eigene Dummheit. Der kleine Wagen ruckte, der Motor setzte kurz aus, und einen Augenblick lang glaubte Kelso, er könnte ihn vielleicht noch einholen, aber dann spuckte der Motor, der Wagen machte einen Satz nach vorn, die Scheinwerfer leuchteten auf, und sie schoß von ihm fort. Er stand da und schaute hilflos zu, wie sie in dem Betonlabyrinth verschwand.
    Er war allein. Keine Menschenseele in Sicht.
    Er machte kehrt und ging über den knirschenden Schnee zurück zu dem Gebäude. Hier im Freien kam er sich ungeschützt vor. Die Ungewißheit schärfte seine Sinne. Irgendwo zu seiner Linken konnte er einen Hund bellen und ein Kind weinen hören und vor sich Musik – erst nur ganz schwach, kaum mehr als ein Rieseln. Sie kam aus Block neun und wurde mit jedem Schritt lauter. Seine Augen konnten jetzt Einzelheiten erkennen – den gerippten Beton, die dunklen Hauseingänge, die Reihen von Baikonen voller Gerumpel: Bettgestelle, Fahrradrahmen, alte Reifen, verdorrte Pflanzen. Drei Fenster waren erleuchtet, alle anderen dunkel.
    Vor Eingang D knirschte etwas unter seinem Fuß. Er bückte sich, um es aufzuheben, ließ es dann aber schnell wieder fallen. Eine Spritze.
    Das Treppenhaus war eine Jauchegrube aus Pisse und Erbrochenem, schlaffen Kondomen und welkem Laub, und er mußte sich die Nase zuhalten. Er fand einen Fahrstuhl, der vielleicht sogar funktionierte – was in Moskau einem Wunder gleichkäme –, aber er ließ es nicht auf einen Versuch ankommen. Also stieg er die Treppe hinauf, und als er im zweiten Stock angekommen war, konnte er die Musik viel deutlicher hören. Jemand spielte die alte sowjetische Nationalhymne – das heißt, die alte alte Hymne, die, welche die Leute zu singen pflegten, bevor Chruschtschow sie verboten hatte. »Die Partei Lenins!« sang der Chor. »Die Partei Stalins!« Kelso brachte die letzten beiden Stockwerke schnell hinter sich, plötzlich von einem Schwall von Hoffnung getragen. Sie hatte ihn also nicht hereingelegt, denn wer außer Papu Rapawa würde um halb zwei in der Nacht die größten Hits von Josef Stalin abspielen?
    Er erreichte den vierten Stock und folgte der Musik den schäbigen Flur entlang zu Nummer zwölf. Der Wohnblock stand offenbar zu vier Fünfteln leer. Die meisten Türen waren zugenagelt, aber nicht die von Rapawa. O nein, mein Junge. Rapawas Tür war nicht zugenagelt. Rapawas Tür war nur angelehnt, und vor ihr lagen, aus Gründen, die sich Kelso beim besten Willen nicht vorstellen konnte, Federn auf dem Fußboden.
    Die Musik brach ab.
    Nun komm schon, mein Junge. Worauf wartest du noch? Du willst mir doch nicht einreden, du hättest nicht den Mumm dazu…
    Einen kurzen Moment lang stand Kelso auf der Schwelle und lauschte.
    Plötzlich ertönte ein Trommelwirbel. Die Nationalhymne begann von vorn.
    Vorsichtig stieß er die Tür an. Sie stand jetzt einen Spaltbreit offen, ließ sich aber nicht

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