Aurora
der Sitzung, um die es hier geht, drehte sich alles um die große Zahl von Flugzeugabstürzen in letzter Zeit. Rugatschow, der Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte, war betrunken. »Es wird auch weiterhin massenhaft Abstürze geben«, platzte er heraus, »solange Sie uns zwingen, in fliegenden Särgen aufzusteigen.« Es folgte ein langes Schweigen, bis Stalin schließlich murmelte:
»Das hätten Sie lieber nicht sagen sollen.« Ein paar Tage später wurde Rugatschow erschossen.
Man könnte Unmengen derartiger Geschichten anführen. Chruschtschow zufolge bestand Stalins Lieblingsmethode darin, einen Mann plötzlich zu mustern und zu sagen: »Weshalb flackern Ihre Augen heute so? Warum können Sie dem Genossen Stalin nicht direkt ins Gesicht schauen?« Das war der Augenblick, an dem das Leben eines Menschen am seidenen Faden hing.
Stalins Umgang mit dem Terror scheint zum Teil seinem Wesen entsprochen zu haben (er neigte von Natur aus zu körperlicher Gewalttätigkeit – manchmal schlug er seine Untergebenen einfach ins Gesicht) und zum Teil auf Berechnung zu beruhen. »Die Leute«, sagte er einmal zu Maria Swanidse, »brauchen einen Zaren.« Und der Zar, den er sich zum Vorbild nahm, war Iwan der Schreckliche. Dafür haben wir eine schriftliche Bestätigung, denn hier in diesem Archiv, in Stalins hinterlassener Privatbibliothek, befindet sich ein Exemplar von A. N. Tolstois 1942 erschienenem Drama Iwan Grosny (F558 O3 D350). Darin hat Stalin nicht nur Iwans Ansprachen so korrigiert, daß sie sich knapper und lakonischer anhörten – das heißt, mehr nach ihm –, sondern auch mehrfach »Unser Lehrer« auf die Titelseite geschrieben.
Im Grunde hatte er an seinem Vorbild nur eines auszusetzen: daß der Zar zu schwach war. So sagte er beispielsweise zu dem Filmregisseur Sergej Eisenstein: »Iwan der Schreckliche ließ jemanden hinrichten und verbrachte dann eine lange Zeit damit, zu bereuen und zu beten. Er ließ zu, daß Gott ihm in diesen Dingen im Wege stand. Er hätte noch viel entschlossener sein müssen!« (Moskowskie novosti, Nr. 32, 1988.)
An Entschlossenheit hat es Stalin nie gemangelt.
Professor I. A. Kuganow schätzt, daß zwischen 1917 und 1953 in der UdSSR rund Sechsundsechzig Millionen Menschen getötet wurden; erschossen, gefoltert, zum größten Teil verhungert, erfroren oder zu Tode geschuftet. Andere behaupten, die tatsächliche Zahl belaufe sich nur auf fünfundvierzig Millionen. Wer weiß das schon?
Übrigens sind in keiner dieser Schätzungen die dreißig Millionen enthalten, die, wie wir heute wissen, im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen.
Um diese Verluste in einen Kontext zu stellen: Die Russische Föderation hat heute rund 150 Millionen Einwohner. Angenommen, die vom Kommunismus angerichteten Verheerungen wären nie passiert, dann müßte unter Zugrundelegung normaler demographischer Entwicklungen die tatsächliche Einwohnerzahl bei 300 Millionen liegen.
Und trotzdem – und das ist ganz eindeutig eines der erstaunlichsten Phänomene unserer Zeit – genießt Stalin nach wie vor ein hohes Maß an öffentlicher Unterstützung in diesem halb entvölkerten Land. Gewiß, seine Denkmäler sind gestürzt worden. Die Straßennamen wurden geändert. Aber hier hat es keine Nürnberger Prozesse gegeben wie in Deutschland. Hier hat kein der Entnazifizierung entsprechender Prozeß stattgefunden. Es hat keine Wahrheitskommission von der Art gegeben, wie sie in Südafrika eingerichtet worden ist.
Und die Öffnung der Archive? »Konfrontation mit der Vergangenheit«? Meine Damen und Herren, wir wollen offen über die Dinge sprechen, die uns allen als Tatsachen bekannt sind. Daß die heutige russische Regierung Angst hat und daß es heute sogar schwieriger ist, Zugang zu den Archiven zu erlangen, als vor sechs oder sieben Jahren. Sie alle kennen die Tatsachen ebensogut wie ich. Berijas Akten: unter Verschluß. Die Akten des Politbüros: unter Verschluß. Stalins Akten die wahren Akten, meine ich, nicht die Schaufensterdekoration, die uns hier angeboten wird: unter Verschluß.
Ich sehe, daß ein paar Kollegen meine Ausführungen nicht gefallen.
Also gut, ich werde sie mit der folgenden Bemerkung zum Abschluß bringen: daß heute keinerlei Zweifel mehr daran bestehen kann, daß nicht Hitler, sondern Stalin die beängstigendste Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts war.
Ich sage das…
Ich sage das nicht nur, weil Stalin mehr Menschen umbrachte als Hitler – obwohl er das nachweislich getan hat
Weitere Kostenlose Bücher