Aurora
1983 zurück und überflog ihn. Er verriet ihm nichts, was er nicht bereits wußte. Oh, dieser Rapawa verstand es, den Mund zu halten – kein einziges Wort in dreißig Jahren. Erst als er am Ende angelangt war und die Empfehlung sah, keine weiteren Schritte zu unternehmen, und den Namen des Beamten las, der diese Empfehlung absegnete, fuhr er von seinem Stuhl hoch.
Er fluchte, griff nach seinem Mobiltelefon, wählte die Nummer des SWR-Nachtdienstes und verlangte, mit der Wohnung von Wissari Netto verbunden zu werden.
10. Kapitel
Sie einigten sich auf dreihundert. Dafür verlangte er aber zweierlei: erstens, daß sie ihn selbst hinfuhr, und zweitens, daß sie dort eine Stunde auf ihn wartete. Eine Adresse allein wäre um diese Nachtstunde nutzlos gewesen, und wenn Rapawas Viertel so heruntergekommen war, wie der alte Mann behauptet hatte (»… damals war es ein anständiger Wohnblock, mein Junge, vor all den Drogen und Verbrechern…«), dann würde kein auch nur halbwegs vernünftiger Ausländer dort allein herumlaufen.
Der Wagen war ein sandfarbener, uralter, ramponierter Lada. Sie hatte ihn in der dunklen Straße, die zum Stadion führte, abgestellt. Jetzt ging sie schweigend mit ihm darauf zu. Sie öffnete zuerst die Fahrertür und entriegelte dann die andere, damit er einsteigen konnte. Auf dem Beifahrersitz lag ein Stapel Bücher – juristische Werke, stellte er fest –, und sie verstaute sie rasch auf dem Rücksitz.
»Sind Sie Anwältin?« sagte er. »Oder studieren Sie?«
»Dreihundert«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin.
»Dollar.«
»Später.«
»Jetzt.«
»Die Hälfte jetzt«, sagte er mit Bedacht, »die andere später.«
»Ich kann mir einen anderen Freier nehmen. Kriegen Sie einen anderen Chauffeur?«
Es war ihre bisher längste Rede in dieser Nacht.
»Okay, okay.« Er zog seine Brieftasche. »Sie werden bestimmt eine gute Anwältin werden.« O Gott. Dreihundert für sie, und im Lokal hatte er mehr als hundert ausgegeben – damit war er fast pleite. Er hatte vorgehabt, dem alten Mann eventuell ein bißchen Geld als Anzahlung für das Notizbuch anzubieten, aber so, wie es aussah, war das jetzt nicht mehr möglich.
Sie zählte die Scheine nach, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in die Manteltasche. Der kleine Wagen ratterte den Leningradski Prospekt hinunter. Es herrschte kaum Verkehr. Sie bog zuerst nach rechts ab und wendete dann auf die Fahrspur in Gegenrichtung. Nun fuhren sie stadtauswärts, vorbei an dem inzwischen verlassenen Dinamo-Stadion, nach Nordwesten, in Richtung Flughafen.
Sie fuhr schnell. Er vermutete, daß sie ihn loswerden wollte. Was für ein Mensch war sie? Das Innere des Lada lieferte ihm keinerlei Hinweise. Es war blitzsauber, fast leer. Er warf einen verstohlenen Blick auf ihr Profil. Das Gesicht war leicht abwärts geneigt und ihr Blick verdrossen auf die Straße gerichtet. Die schwarzen Lippen, die weißen Wangen, die kleinen und fein gespitzten Ohren unterhalb des kurzen schwarzen Haars – sie hatte etwas Vampirhaftes an sich: Verstörend, dachte er wieder. Verstört. Er hatte immer noch ihren Geschmack im Mund. Ohne daß er es eigentlich wölke, malte er sich aus, wie es sein würde, mit ihr Sex zu haben – jetzt schien sie völlig unzugänglich, aber noch vor einer Viertelstunde hätte sie alles getan, was er von ihr verlangt hätte.
Sie schaute in den Rückspiegel und ertappte ihn dabei, wie er sie musterte. »Lassen Sie das.«
Er schaute sie trotzdem weiter an – jetzt ganz ohne Umschweife; er ignorierte einfach ihre Bitte, immerhin hatte er für die Fahrt bezahlt –, aber dann kam er sich schäbig vor und wendete den Kopf von ihr ab.
Die Straßen, die er durch die Scheibe vor sich sah, waren erheblich dunkler geworden. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Sie waren am Park der Freundschaft vorbeigefahren, das wußte er, und an einem Kraftwerk und einer Eisenbahnkreuzung. Neben der Straße, quer über sie hinweg und dann an der anderen Seite entlang, verliefen dicke Fernwärmerohre, aus deren Nahtstellen Dampf entwich. Gelegentlich konnte er in der Dunkelheit die Flammen von Herbstfeuern sehen und Leute, die sich um sie herum bewegten. Nach weiteren zehn Minuten bog sie nach links auf eine Straße ab, die so breit und so uneben wie ein Acker und an beiden Seiten von alten Birken gesäumt war. Sie erwischten ein Schlagloch, und das Chassis schrammte über Gestein. Sie warf das Steuer herum, manövrierte aber den Wagen
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