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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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der lange schwarze Wagen mit dem laufenden Motor, zwei Männer in Mänteln, die die Treppe herunterstürmten – gibt es denn überhaupt kein Entkommen aus der Vergangenheit? dachte Suworin bitter, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Er war überrascht, daß keine Touristen da waren, um diese althergebrachte Szene aus dem Leben von Mütterchen Rußland festzuhalten. Weshalb nicht ein Foto davon im Reiseführer, Liebling, zwischen der Basiliuskathedrale und einer Troika im Schnee?
    Am unteren Ende der Anhöhe in der Nähe des Hotels Metropol fuhren sie über eine Bodensenkung. Suworin prallte mit dem Kopf gegen das gepolsterte Wagendach. Auf dem Beifahrersitz entfaltete Netto eine Straßenkarte von Moskau, die noch nicht offiziell war, da sie dank des großen Maßstabs alles bis ins kleinste Detail verzeichnete. Suworin schaltete die Innenbeleuchtung ein und lehnte sich vor, um die Karte besser studieren zu können. Die Wohntürme des Siegder-Revolution-Komplexes lagen in einem der äußeren Vororte im Nordwesten und waren wie Briefmarken über die Metrolinie Tagansko-Krasnopresnenskaja verstreut. »Wie lange brauchen wir? Zwanzig Minuten?«
    »Fünfzehn«, sagte der Fahrer angeberisch. Er trat aufs Gas, fuhr bei Rot über die Kreuzung und bog scharf nach rechts ab. Suworin wurde in die entgegengesetzte Richtung gegen die Tür geschleudert. Im Vorbeifahren konnte er gerade noch einen kurzen Blick auf die Lenin-Bibliothek werfen.
    »Um Himmels willen, nicht so schnell«, sagte er. »Wir wollen kein Strafmandat riskieren.«
    Sie jagten weiter. Sobald sie aus dem Stadtzentrum heraus waren, schloß Netto das Handschuhfach auf und händigte Suworin eine gutgeölte Makarow und die dazugehörige Munition aus. Suworin nahm die Pistole widerstrebend entgegen, spürte das unvertraute Gewicht in seiner Hand, überprüfte den Mechanismus und zielte im Vorbeifahren kurz auf einen Birkenstamm. Er war nicht in den Geheimdienst eingetreten, weil er dergleichen liebte. Er hatte es getan, weil sein Vater ein Diplomat war und ihm schon frühzeitig beigebracht hatte, daß man als Sowjetbürger am besten dran war, wenn man einen Posten im Ausland bekam. Waffen? Suworin hatte schon seit einem Jahr keinen Fuß mehr in den Schießstand von Jassenewo gesetzt. Er gab Netto die Waffe zurück, der nur die Achseln zuckte und die Pistole in die eigene Tasche steckte.
    Auf der Straße hinter ihnen erschien geräuschvoll ein blauer Punkt, der langsam anschwoll und schließlich wie eine wütende Hornisse an ihnen vorbeisauste – ein Streifenwagen der Moskauer Miliz. Dann schrumpfte er vor ihnen wieder zusammen.
    »Arschloch«, sagte ihr Fahrer.
    Ein paar Minuten später bogen sie von der Hauptstraße ab und gelangten in die Wildnis aus Beton und Ödland, die den Sieg der Revolution darstellte. Fünfzehn Jahre in Kolyma, dachte Suworin, und dann so was. Und der Witz war, daß Rapawa das neue Zuhause wie das Paradies vorgekommen sein mußte.
    »Der Karte nach müßte Block neun direkt hinter der nächsten Ecke liegen«, sagte Netto.
    »Fahren Sie langsamer«, befahl Suworin plötzlich und legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter. »Hören Sie etwas?«
    Er kurbelte das Fenster runter. Wieder eine Sirene, jetzt links von ihnen. Das Heulen wurde einen Augenblick lang von einem Gebäude gedämpft, dann wurde es wieder sehr laut, und Farben blitzten vor ihnen auf – eine blaugelbe Light-Show, die recht hübsch anzuschauen war und sich rasch bewegte. Einen kurzen Moment lang sah es so aus, als käme der Streifenwagen direkt auf sie zu, aber dann verließ er die Straße und rumpelte über das unebene Gelände. Kurz darauf waren sie auf gleicher Höhe wie er und konnten den Eingang zu dem Block selbst sehen beleuchtet wie ein Märchenpalast, drei Autos, ein Krankenwagen, Leute, die hin und her eilten und dunkle Fußspuren im Schnee hinterließen.
    Sie fuhren mehrmals um das Gebäude herum, drei unbeachtete Gaffer in einem Auto, und sahen, wie die Sanitäter den Toten heraustrugen und wie Kelso abgeführt wurde.

11. Kapitel
    Die folgende Geschichte geht auf Simonow zurück.
    Bei Versammlungen des Rates der Volkskommissare war es Stalins Angewohnheit, sich von seinem Platz am Kopfende des langen Tisches zu erheben und hinter den Rücken der Sitzungsteilnehmer herumzuwandern. Niemand wagte es, sich umzuschauen; wo er sich gerade befand, konnten sie nur dem leisen Knarren seiner Lederstiefel entnehmen oder dem flüchtigen Geruch seiner Dunhill-Pfeife. Bei

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