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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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weiter öffnen. Es war irgend etwas dahinter, was sie blockierte.
    Er quetschte sich durch den Spalt. Das Licht war eingeschaltet.
    Großer Gott…
    Dachte mir, daß du beeindruckt sein würdest, mein Junge. Dachte mir, daß du überrascht sein würdest. Wenn schon jemand über einen herfällt, dann können es ebensogut Profis sein, die über einen herfallen, findest du nicht?
    Zu Kelsos Füßen lagen weitere Federn; sie stammten aus einem Kissen, das aufgeschlitzt worden war. Man konnte allerdings nicht sagen, daß diese Federn auf dem Fußboden lagen, es war nämlich kein Fußboden mehr da. Die Dielen waren alle hochgehebelt und an den Wänden des Raums aufgetürmt worden. Über die Bretterhaufen verstreut lagen die Überreste von Rapawas wenigen Habseligkeiten – Bücher mit gebrochenen Rücken, durchstochene Bilder, die Skelette von Stühlen, ein zerstörter Fernseher, ein Tisch mit den Beinen in der Luft, Teile von Geschirr, Glasscherben, zerfetzter Stoff. Die Verkleidung der Innenwände war abgerissen und die Hohlräume waren freigelegt worden. Die Außenwände waren beschädigt und eingedellt worden, allem Anschein nach mit einem Vorschlaghammer. Der größte Teil der Decke hing herunter. Über dem ganzen Zimmer lag eine dicke Schicht Gipsstaub.
    Und mitten in diesem Chaos, auf einem schwarzen Haufen zerbrochener Schallplatten, stand ein Telefunken-Plattenspieler aus den Siebzigern, den man auf automatische Wiederholung eingestellt hatte.
    Die Partei Lenins! Die Partei Stalins!
    Kelso ging vorsichtig über die Trägerbalken zum Plattenspieler und hob die Nadel.
    In der einsetzenden Stille war nur das Tröpfeln eines Wasserhahns zu hören.
    Das Ausmaß der Zerstörung war so überwältigend, so sehr jenseits von allem, was Kelso je erlebt hatte, daß er, nachdem er festgestellt hatte, daß niemand in der Wohnung war, gar nicht auf die Idee kam, sich zu ängstigen. Jedenfalls anfangs nicht. Er schaute sich fassungslos um.
    Also wo bin ich, mein Junge? Das ist die große Frage. Was haben sie mit dem armen alten Rapawa gemacht? Nun komm schon, komm und hole mich. Dalli, dalli, Genosse – wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!
    Kelso balancierte schwankend auf einem der Trägerbalken entlang in die Kochnische: aufgeschlitzte Packungen, umgekippter Kühlschrank, heruntergerissene Schränke…
    Er bewegte sich vorsichtig rückwärts und um die Ecke herum in einen kleinen Flur, wobei er sich an der blanken Wand abstützte, um nicht abzurutschen.
    Hier sind zwei Türen, mein Junge – rechts und links. Entscheide dich!
    Er schwankte, war unentschlossen, dann streckte er eine Hand aus.
    Die erste… ein Schlafzimmer. Jetzt wird es warm, mein Junge. Übrigens: Hattest du vor, meine Tochter zu ficken?
    Aufgeschlitzte Matratze. Aufgeschlitzte Kissen. Umgekipptes Bett. Leere Schubladen. Kleiner und schäbiger Synthetikteppich, aufgerollt und hochkant gestellt. Überall Gipsbrocken. Fußboden hoch. Decke herunter.
    Als Kelso wieder auf dem Flur war, atmete er erst einmal tief durch. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und balancierte auf dem Balken weiter.
    Die zweite Tür…
    Ganz warm jetzt, mein Junge!
    … die zweite Tür: das Badezimmer. Deckel des Spülkastens abgenommen, an die Toilette gelehnt. Waschbecken von der Wand gerissen. Eine weiße Plastikwanne, randvoll mit rötlichem Wasser, das Kelso an verdünnten georgischen Wein denken ließ. Er tauchte einen Finger hinein und zog ihn nach dem unerwarteten Kälteschock rasch wieder heraus. Die Fingerspitze war ganz rot.
    Auf der Wasseroberfläche schwamm ein Haarbüschel, an dem noch kleine Hautfetzen hingen.
    Weiter, mein Junge!
    Von einem Balken auf den anderen, mit Gipsstaub im Haar, auf den Händen, überall auf seinem Mantel, seinen Schuhen…
    In seiner Panik geriet er ins Stolpern, rutschte von dem Balken ab, und sein linker Fuß bohrte ein Loch in die Decke der darunterliegenden Wohnung. Ein Putzbrocken löste sich, und Kelso konnte hören, wie der Putz in die Dunkelheit der leerstehenden Wohnung prasselte. Es brauchte eine halbe Minute, und er mußte beide Hände benutzen, um den Fuß wieder zu befreien.
    Kelso zwängte sich durch den Türspalt nach draußen und bewegte sich dann schnell den Flur an den leerstehenden Wohnungen entlang und auf die Treppe zu. Er hörte eine Art Pochen.
    Er blieb stehen und lauschte. Bum!
    Ah, heiß jetzt, mein Junge, ganz, ganz heiß…
    Es kam aus dem Fahrstuhl. Da war jemand im Fahrstuhl.
    Bum!
    Die Lubjanka, die Nachtstille,

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