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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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–, und nicht einmal deshalb, weil Stalin im weitaus stärkeren Maße ein Psychopath war als Hitler – obwohl er das eindeutig war. Ich sage das, weil Stalin, im Gegensatz zu Hitler, immer noch nicht exorziert worden ist. Und auch, weil Stalin im Gegensatz zu Hitler keine einmalige Erscheinung war, eine Eruption aus dem Nirgendwo. Stalin steht in der historischen Tradition einer Schreckensherrschaft, die schon vor ihm existierte, die er nur verfeinerte und die jederzeit wieder errichtet werden könnte. Er, nicht Hitler, ist das Gespenst, vor dem wir Angst haben sollten.
    Denken Sie einmal über folgendes nach. Wenn Sie in München in ein Taxi steigen, finden Sie da ein Hitlerbild, das der Fahrer in seinem Wagen angebracht hat? Hitlers Geburtshaus ist kein Wallfahrtsort. Auf Hitlers Grab werden nicht täglich frische Blumen gelegt. In den Straßen von Berlin kann man keine Kassetten mit Hitlers Reden kaufen. Hitler wird von den führenden deutschen Politikern gewöhnlich nicht als »großer Patriot« g epriesen. Bei den letzten Wahlen in Deutschland hat Hitlers alte Partei nicht vierzig Prozent der Stimmen erhalten…
    Aber all diese Dinge treffen im heutigen Rußland auf Stalin zu, was die Worte Jewtuschenkos in Die Erben Stalins heute noch relevanter macht, als sie es je waren: »Also fordere ich unsere Regierung auf: Verdoppelt verdreifacht die Wache an seinem Grab!«
    Kurz nach drei Uhr nachts wurde Fluke Kelso in die Zentrale der Moskauer Stadtmiliz gebracht. Dort wurde er sich zunächst selbst überlassen, angespült mit dem Rest des Abschaums der Nacht – einem halben Dutzend Huren, einem tschetschenischen Zuhälter, zwei weißgesichtigen belgischen Bankern, einer Transvestiten-Tanztruppe aus Turkestan und dem üblichen Mitternachtsgesindel von durchgedrehten Spinnern, Stadtstreichern und Drogensüchtigen. Hohe Stuckdecken und halb kaputte Kronleuchter verliehen den Vorgängen einen stark an die Revolution erinnernden Anstrich.
    Er saß allein auf einer harten Holzbank, hatte den Kopf an den abblätternden Putz zurückgelehnt und starrte vor sich hin, ohne etwas wahrzunehmen. Also so – so war das? Oh, man konnte sein halbes Leben damit verbringen, über all das zu schreiben: über die Millionen – zum Beispiel über Marschall Tuschatschewski, der vom NKWD zu Brei geschlagen worden war; auf seinem Geständnis, das im Archiv aufbewahrt wurde, klebte noch das getrocknete Blut. Man hatte das Geständnis sogar selbst in Händen gehalten, und einen Augenblick lang hatte man geglaubt, eine genaue Vorstellung davon zu haben, wie es damals gewesen sein mußte – aber dann wurde man mit der Realität konfrontiert und begriff, daß man nicht das geringste verstanden hatte, daß man nicht einmal im Ansatz ahnen konnte, was das in Wirklichkeit für ein Gefühl war.
    Nach einer Weile kamen zwei Milizionäre herbeigeschlendert und traten an den metallenen Trinkwasserspender neben ihm. Sie unterhielten sich über den Fall des usbekischen Banditen Zexer, der offenbar früher am Abend in der Garderobe des Babylon mit einer Maschinenpistole erschossen worden war.
    »Kümmert sich jemand um meinen Fall?« unterbrach Kelso sie. »Es geht um einen Mord.«
    »Ah, einen Mord!« Einer der Männer verdrehte mit gespielter Überraschung die Augen. Der andere lachte. Sie ließen ihre Pappbecher in den Abfalleimer fallen und verschwanden.
    »Warten Sie!« rief Kelso.
    Auf der anderen Seite des Ganges begann eine ältere Frau mit verbundenem Kopf zu schreien.
    Er ließ sich auf die Bank zurücksinken.
    Endlich kam ein dritter Polizist, kraftvoll gebaut und mit einem Gorki-Schnurrbart, erschöpft die Treppe herunter und stellte sich als Ermittler Belenki von der Mordkommission vor. Er hielt ein schmuddeliges Stück Papier in der Hand.
    »Sie sind der Zeuge in der Sache mit dem alten Marin, Rapazin?«
    »Rapawa«, korrigierte Kelso.
    »Richtig, so hat er geheißen.« Belenki warf einen Blick auf die Kopfzeile und die Fußzeile des Papiers. Vielleicht lag es an dem Schnauzbart, vielleicht auch an den wässerigen Augen, jedenfalls machte er einen unendlich traurigen Eindruck. Er seufzte. »Gut. Wir brauchen Ihre Aussage.«
    Belenki führte ihn eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock, in ein Zimmer mit abblätternden grünen Wänden und einem unebenen, glänzenden Parkettfußboden. Er bedeutete Kelso, sich zu setzen, und legte einen Stapel linierte Blätter vor ihn hin.
    »Der alte Mann hatte Stalins Papiere«, begann Kelso. Er

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