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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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liegt nur an den andern: sie sind nicht hier, wo ich bin, und andere sind da, denen ich jetzt näher stehe. Das gibt den Ausschlag; sonst könnte es März in Prag sein, die Luft und das Licht wie heute und hier, aber das wäre genau vor vierzig Jahren, und da ist M., die mir ihren Arm gibt, noch nicht auf der Welt. Von Prag fahre ich nach Belgrad, nach Istanbul, nach Athen, nach Korfu, wo ich auf Sperrholz male; der Geruch von Terpentin genügt noch immer, dass ich in Korfu bin. Mexico ist schöner, aber das weiss ich nur. Ferner weiss ich, dass ich heute nicht in Zürich bin, sondern unterwegs zu Uwe Johnson, Stierstrasse 3, Friedenau, West-Berlin, gegen Abend.
     
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    Mit 19 schrieb ich ein Tagebuch, das ich später vernichtet habe mit allem andern ; Erinnerung an einen einzigen Satz: Alles was ich schreibe (denke), schwimmt wie ein Kork obenauf.
     
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    Ohne Arbeitsplan, aber es bedrückt mich überhaupt nicht; ich sitze meistens an der Schreibmaschine, weil es mir da am wohlsten ist.
     
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    71 Ich denke nicht mehr an Selbstmord, was nicht heisst, dass er nicht im Affekt möglich ist; aber nur im Affekt, ohne Vorsatz.
     
    72 Vor einer Woche (23.3.) Besuch bei Jurek Becker, Ost-Berlin. Wohnt weit draussen, Einfamilienhaus mit Garten; zwei Kinder. Ich komme aus der Lektüre von JAKOB DER LÜGNER . Jugend in Ghetto und KZ, Muttersprache Polnisch, nicht einmal Jiddisch; er schreibt also in einer Zweitsprache. Ohne Besichtigung zu betreiben, nimmt man einen Standard wahr, der für einen freien Schriftsteller Mitte Dreissig ungewöhnlich ist, im Westen kaum anzutreffen; es ist alles da. Obschon unser Telegramm erst vor einer Stunde eingetroffen ist, ein festliches Abendessen; auch französischer Cognac. Unter anderem Gespräch über Israel; ein persönlicher Anti-Zionismus. Schon Vater und Mutter nicht religiöse Juden. Beiläufig viel Auskünfte über DDR-Personen. J.   B. ein Geschichtenerzähler, man mag ihn sofort; Selbstbewusstsein ohne Allüre. Ihr Verhältnis zu diesem Staat bleibt undurchsichtig; Humor auch diesbezüglich, ab und zu in Anführungszeichen gesprochen: »im Sozialismus«, »Errungenschaft des Kommunismus«, aber auch nicht subversiv; eine deutliche Scheu, als Propagandist zu erscheinen oder als Resignierter. J.   B. geht es gut. Sie demonstrieren nicht ihr privates Wohlergehen, aber verhehlen auch nicht, dass es schön ist, allerlei schöne Dinge zu haben. Er, zum Beispiel, kann reisen, hat aber kein Verlangen danach. Es atmet da eine Selbstverständlichkeit, dass man sich erst im nachhinein fragt, wie es mit den Privilegien ist. Auch J.   B., wie alle, sehr hilfsbereit; das Menschliche hat Vorrang. Warum jemand wie ich in Leipzig offiziell gepflegt wird, nach seiner Deutung: die Welle der DDR-Anerkennung bringt sie in eine gewisse Verlegenheit, es gilt zu zeigen, dass man weltmännisch ist, vorallem aber dass die Frostigkeit nur 73 der Bundesrepublik gilt, ganz und gar nicht dem Ausland schlechthin.
     
    74 Das Doppelgesicht des Herrn Gruner. Bisher noch kein Gespräch über die Aussenseiter, über Wolf Biermann. Noch ist es (für mich) wie eine Einübung, einander von Person zu Person zu begegnen, nicht als Vertreter von Blöcken, was man ja nicht ist. Ein guter Abend. Heute Nachmittag fahren wir wieder zu J.   B., auch Günter Kunert soll dabei sein .
     
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    Was mich aus der Schweiz erreicht: Steuerrechnungen. Und eine Einladung von der Sowjetischen Botschaft aus Bern ; der Attaché hätte mich gerne persönlich gesprochen. Hat er das TAGEBUCH nicht gelesen? Einladung nach Moskau im Mai.
     
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    Es muss an mir liegen, dass keiner von den Freunden, deren Arbeit ich seit Jahren verfolge, einmal von den Problemen seiner Arbeit schreibt, Fragen grundsätzlicher Natur aufwirft oder berichtet, was ihm diese oder jene Lektüre offenbart hat. Oder liegt es nur daran, dass es ja das Telefon gibt, wobei man allerdings nicht von literarischen Problemen spricht; allenfalls ist zu vernehmen, dass ein Text viel Mühe macht, dass eine Erzählung fertig geworden ist, alldies nebenbei, innerhalb der Frage nach dem allgemeinen Befinden schon auch die Frage: Kannst du in Berlin arbeiten? wobei die telefonische Auskunft, Ja oder Nein, jedenfalls genügt. Aber eigentlich ist es im Gespräch, wenn wir zusammensitzen, kaum anders; eine gute Art von Kumpanei, und wenn Ernst aufkommt, dann führt er ins Politische, oder das Gespräch befasst 75 sich mit Personen, die nicht zugegen

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