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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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scheint nicht der Fall zu sein. Es stimmt schon, was der Hauswart sagt, die Sekretärin, der Freund von damals, die Schwester, der Mann von der Garage, der Nachbar von oben und der Nachbar von unten, der Briefträger, ein alter Kellner, die geschiedene Frau, der Sohn, und dass der Mann in der Anklageschranke plötzlich schreit, plötzlich mit beiden Fäusten auf die Schranke trommelt, ist unverständlich. Nervenzusammenbruch bei erwiesener Unschuld. Er schreit: Aufhören, aufhören! Es sind aber noch weitere Zeugen da; jeder berichtet in seiner Art, was er zur Person des Unschuldigen weiss. Auch Fotos, die ihn entlasten, werden im Saal herumgereicht. Das einzige Indiz, das noch besteht, ist sein Nervenzusammenbruch oder wie man das nennen will. Benimmt ein Unschuldiger sich so? Aber die Geschworenen lassen sich nicht verwirren, es kommt zum erwarteten Freispruch, den er nicht zu hören scheint. Der Mann bleibt sitzen. Er mag nicht 66 mehr leben. Er kann nur den Kopf schütteln. Der Mann ist sich selbst so unsympathisch geworden, grenzenlos unsympathisch.
     
    67 Die Hormone und die Sprache! Tatsächlich wird jeder Satz unsinnlich. Die Vorstellung, beim Schreiben, ist nicht so unsinnlich; ich sehe doch Farbe, Linie, Körperlichkeit. Rieche ich schwächer? Oft meine ich sogar, die Eindrücke seien genauer. Lese ich, was ich früher geschrieben habe, stört mich oft, wie vage etwas beschrieben ist; Adjektive aufs Geratewohl, ganz zu schweigen von der Metaphorik. Bin ich heute, wenn ich etwas wahrnehme oder mich einer momentanen Einbildung überlasse, weniger berührt? Wie im Geschlechtlichen. Die Sprache, die ich schreibe, hat zu wenig Körper; die Wörter sind vielleicht genauer, der Satzbau zutreffender, aber alles zusammen bekommt keinen Körper und keinen Geruch, nicht einmal Schatten; wie ein Steckbrief auf Gegenständliches, aber ungegenständlich. Es fehlt nicht an Rhythmus, aber es ist ein Rhythmus der Nicht-Spontaneität. Bin ich, infolge meines Alters, so unspontan? Offenbar ja, zumindest am Schreibtisch, wo ich mich am wohlsten fühle, wo ich es nicht merke; ich merke es erst, wenn ich es nachlese. Und oft genug lese ich es gar nicht nach; ich weiss schon: diese Unsinnlichkeit meiner Sprache jetzt. Wie ausgelöscht, die selben Wörter, aber ohne Hall, wenn man sie liest; Chiffren, aber eben nicht das Ding selbst.

68 27.3.
     
    Günter, zurück von seinem Haus in Schleswig-Holstein , wo er, wie er sagt, gezeichnet hat; die Entwicklung unsrer Beziehung: er zeigt sich bedürftig, wird offen-herzlich, es zeigt sich in Kleinigkeiten, z.   B. indem er etwas Ermunterndes über das körperliche Aussehen des andern sagt. Das Porträt im TAGEBUCH, 1971, ist völlig überholt . Er gibt dem andern seine Möglichkeit, präsent zu werden, und nimmt ihn nicht lediglich als Publikum; das befreit die Zuneigung. Schade, dass er in den nächsten Tagen ins Tessin fährt. Kommt doch ins Tessin, sagt er wie einer, der wenige Freunde hat.
     
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    Ohne Zeitgefühl, ein Jahr ist nichts, aber eigentlich kein Gefühl für das Vergehen; es kann ein Tag oder ein Jahr sein, zum Beispiel das gleiche März-Licht am Hudson, und es sind zwei Jahre her, drei Jahre. So viel Zeit hat ein Mensch ja gar nicht. Die Luft auf der Haut, dieser Morgen in Rom als Gegenwart; das aber sind dreizehn Jahre her. Nicht Erinnerung, sondern die Gegenwart; ein Geruch ist da oder er ist nicht da, aber er kann plötzlich wieder da sein; keine Zeit. Was zur Datierung zwingt: ich bin nicht allein auf der Welt und will mich verständigen. Dann ertappe ich mich oft auf falschen Datierungen; ich muss sie ausrechnen mit dem Verstand. Wozu?
     
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    Memoiren geschrieben, ein kurzes Stück nicht zum Veröffentlichen; meine Beziehung zu W., Werner Coninx, die Geschichte einer fatalen Freundschaft .
     
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    69 Ironie als das billige Mittel, einen Menschen zu reduzieren auf unser eigenes Verständnis.
     
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    Die merkwürdige Bereitschaft, noch einmal zu leben, wenn das zu haben wäre.
     
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    70 Heute in Manhattan, ich brauche nicht einmal die Augen zu schliessen, zum Beispiel im Washington Square. Vormittag; das Wetter wie heute und hier. Natürlich sehe ich: Bundesallee, alles ganz anders, einmal abgesehen von dem ersten Grün an den Zweigen, und die Flugzeuge kommen hier niedriger, ich bin noch etwas älter als im Washington Square, wo ich schon älter bin als im Washington Square vor zweiundzwanzig Jahren , von heute aus gerechnet. Es

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