Aus dem Berliner Journal
sind. Auch wenn wir zehn Stunden zusammen sind, nie Zeit für die Probleme der literarischen Arbeit; kein striktes Tabu, man kann schon davon reden, z. B. vom Imperfekt, das mich beschäftigt und die Freunde vermutlich auch, aber solche Themen halten sich nie lange. Angst vor Fachsimpelei? als wäre das übliche Rialto-Gerede über die üblichen Ereignisse in den Verlagen nicht eine Simpelei, Ausflucht in Klatsch. Dass wir das neue Buch eines Dritten besprechen, nicht bloss erwähnen, sondern in einer literarischen Diskussion untersuchen, kommt selten vor; meistens bleibt es bei kurzen Verlautbarungen des Missfallens oder der Anerkennung, pauschal in jedem Fall, damit die Geselligkeit nicht unterbrochen wird. Es gibt Ausnahmen: wenn wir einander ein Manuskript gezeigt haben. Was selten geschieht. Ein Arbeitsgespräch anhand eines Textes; unter vier Augen. Danach reden wir Jahre lang nicht von Literatur und sitzen doch zusammen, als bräuchten wir Kollegen. Wozu ein Briefwechsel? Um zu sagen, was wir uns zu sagen haben, genügt das Telefon durchaus, und wenn man sich einige Monate lang nicht treffen wird, wenn die Entfernung (2 Flugstunden) sozusagen dazu verpflichtet, dass man etwas mitteilt, was auch am andern Ort noch von Interesse wäre, so habe ich schon Mühe; es bleibt Herzlichkeit an sich, Bemühung um ein gutes Verhältnis für den Fall, dass man sich wieder einmal trifft. Das reicht nicht für Briefe. Solange wir hier kein Telefon hatten, kam es zu zwei oder drei Briefen; Palaver schriftlich, Kumpanei auf Distanz, kein Aufwerfen einer Frage, die dazu nötigt, dass man sich einen Tag lang oder eine Nacht lang hinsetzt. Ein liebes Zeichen, ein Zeichen, dass wir uns mögen und einander eigentlich nicht brauchen, 76 wenn wir nicht am gleichen Ort sind. Es muss auch an mir liegen.
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Wenn es kaum noch einen Sinn hat zu lesen; man versteht, was man gerade liest, aber das Gedächtnis kann es nicht bewahren. So wenig wie Träume; es bleiben nur Rudimente, man erinnert sich bloss an die Dringlichkeit der Nachricht, nicht an ihren Inhalt.
77 29.3.
Günter Kunert, 44, er verbrachte mit Frau vier Monate in Austin, Texas. Gespräch über USA-Erfahrungen, ich frage ihn im Lauf des Abends immer wieder, wobei mich im Augenblick interessiert, was dabei im Rückspiegel erscheinen könnte: ihre intellektuelle Position hier in der DDR. Im direkten Gespräch über die DDR, das sie weder suchen noch meiden: ein loyal-ironisches Verhältnis zu diesem Staat, das Thema hängt ihnen etwas zum Hals heraus, auch die Polemik gegen den Westen. Wieviel sie dann wissen durch West-Fernsehen, wieviel sie kennen von amerikanischen Filmen, wieviel Interesse für Thematik, die nicht mit Sozialismus-Kapitalismus zu entziffern ist. Langes und kenntnislustiges Gespräch über Nieren-Transplantationen. Boykott des politischen Jargons; die westlichen Ultra-Linken als Ärgernis. Bedürfnis nach Humor, der dann nicht unverbindlich ist. Da die Generäle sich besorgt zeigen, dass die Soldaten zwar ihr Land verteidigen wollen, aber sich nicht nach einem Tod fürs Vaterland sehnen, mein Vorschlag: einen Film für die Generäle zu machen, der sehr kurz wäre, indem alle Soldaten ihren Tod fürs Vaterland im Sinn haben und dadurch die Schlacht sofort verlieren. Beiläufig in den Gesprächen und Erzählungen, aber evident: ihr positives und wieder unschuldiges Verhältnis zum Besitz, ihr Interesse daran, ihre Freude an Anschaffungen schöner Sachen oder lustiger Sachen, unnötiger Sachen; lebhafter als bei uns (bei Menschen des gleichen Berufsstandes) das Bedürfnis nach dem Exquisiten. Ist es vorhanden, so erscheint es aber nicht als Status-Symbol; es manifestiert das Individuum. Was Kunert zu Amerika sagt, sehr komplex und 78 differenziert. Er ist von Figur schmächtig und grazil, kahlköpfig mit Schnurrbart und mit fliehendem Kinn, die Augen sehr wach, ab und zu lustig, etwas blitzartig. Er ist freundlich, ohne etwa beflissen zu sein, und gesichert vor Überschwänglichkeit. Übrigens war er zum ersten Mal im Haus von Jurek Becker. Hinterher der Eindruck, Kunert habe nie Fragen an mich gestellt, was keineswegs heisst, dass er nicht gesprächsbereit ist.
79 Nachlassen der Erfindungskraft, aber gleichzeitig kommt etwas hinzu, was nicht ohne weiteres eine Folge des Nachlassens ist: ein geschichtliches Interesse an der eignen Biographie und an der Biographie andrer, die man zu kennen gemeint hat, ein Interesse an der Faktizität,
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