Aus dem Berliner Journal
Zürich) oft die plötzliche Erinnerung an Menschen, unverlangt. Fakten; sie fallen mir ohne Anlass ein. Was ich in meinem Leben alles nicht wahrgenommen habe. Wie brutal ich in bestimmten Situationen war, wie naiv und unbewusst, ebenso wahnwitzig in der Selbstgerechtigkeit wie in der Ungerechtigkeit gegen mich selbst, unwissend ohne auch nur eine Ahnung davon, wie unwissend ich lebte, wie blind, wie übermütig, wie vorsichtig, wie blöd, wie begabt. Jetzt Memoiren schreiben (nicht zur Veröffentlichung) wäre das Abenteuer, das noch möglich ist; es würde mich packen und umdrehen, glaube ich. Ich hätte ein Leben hinter mir, eines, das mich noch einmal interessiert, weil ich es nicht kenne. Es hiesse vorerst sich selbst verlieren. Wo die Gegenwart nicht mehr viel auslöst an Gefühl, plötzlich kommt es aus dem Vergangenen-Vergessenen: Gefühl, das sich ausdrücken möchte. So vielerlei ist gelebt worden und verschüttet, indem man weiterlebte. Ich müsste jetzt jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, es eilt, es ist aufregend. Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Es kommen auch Kronen zum Vorschein, die man nie getragen hat, unter viel Misere durch Dummheit und Feigheit und Eitelkeit auch Kronen, jetzt nicht mehr auf den Kopf zu setzen.
–
Früher war ich in London, um eigene Aufführungen anzusehen; Royal Court, Old Vic. Heute sehe ich zufällig 97 das Royal Court Theatre und bleibe einen Augenblick stehen.
–
Bescheidenheit? Ich habe gekniffen; Angst vor dem Hochmut, der gefordert werden kann. Der Preis für diese beschissene Bescheidenheit: sie verdirbt die Menschen, die einen lieben, einen nach dem andern. Der Preis für Feigheit.
–
Gestern Ostermontag (British Museum, Pub, Schiff von Scott, Chelsea etc.) ein glücklicher Tag für beide. Dann gelingt plötzlich alles, Glück im Zufall, alles wird Gegenwart leichthin, Aktualität der eignen Existenz, es regnet und regnet, aber die Götter nehmen dich an die Hand, Athene, Hermes.
–
Ich könnte Berzona ohne Wimpernzucken verkaufen und verlassen. Berzona ist überlebt. Eine Fälligkeit, man scheut nur noch die Umständlichkeit der praktischen Durchführung. Wohin mit den Büchern, Dokumenten, Notizen usw. Für M. eine überraschende und erleichternde Kunde. Und die Wohnung in Küsnacht? Genau so. Stimmt es überhaupt, dass man irgendwo zuhause sein muss? Der luxuriöse Unsinn mit den drei Wohnungen; wie es dazu gekommen ist und die Erfahrung dabei, dass Eigentümerschaft mich nicht verwurzelt. Exil-Existenzen (wie Michael Hamburger hier) kommen mir verwurzelter vor. Ich kann ja jederzeit nach Zürich, wo ich zur Schule gegangen bin, wo ich fast ohne Unterbrechung bis zum 98 fünfzigsten Lebensjahr gearbeitet habe; nur eben wozu. Wegen der Bodega Gorgot oder um die Fassade des Zürcher Schauspielhauses zu sehen? Oder die beiden Hochschulen, die ich besucht habe, das Grab der Mutter, einige Leute, auch gute Leute, sowie die Landschaft; ich kann nicht einmal sagen: meine Vergangenheit. Diese fällt mir unterwegs ein.
–
Gespräch mit Uwe Johnson in Berlin (10.4.?) wegen der Werkausgabe . Ja oder Nein? Ich bin jetzt doch dafür, wenn auch gegen Vollständigkeit. Eigentlich möchte ich nur:
Blätter aus dem Brotsack
Tagebuch 1946-1949
Tagebuch 1966-1971
Bin oder Die Reise nach Peking
(Die Schwierigen?)
Stiller
Homo faber
Gantenbein
Tell
Nun singen sie wieder
Graf Öderland
Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie
Biedermann
Andorra
4 oder 5 Reden, gedruckte. Aber Johnson fordert Vollständigkeit (wenn schon, denn schon, Sie müssen dazu stehen, Herr Frisch, wir kennen alles), was mir ein Graus ist. Zum Beispiel möchte ich keine Zeitungsartikel. ( Johnson kommt mit Walter Benjamin, der meinen Namen als Journalist erwähnt hat .) Briefe? Laut Testament gar keine. 99 Ein fragwürdiger Entscheid. Wenn Briefe, welche? Ich kenne sie ja nicht mehr. Eventuell: Briefe an Kollegen, Verleger, Institutionen. Keine Briefe an Frauen, Kinder, Mutter. Keine Notizen, auch nicht posthum. Darin liegt die Schwierigkeit aller diesbezüglichen Überlegungen: lebe ich bei der Veröffentlichung der Werkausgabe noch oder nicht. Ich sitze im Teeraum (Brown’s Hotel, London) und fühle mich ausgezeichnet, warte auf M., um in die National Gallery zu gehen, ein sonniger Tag.
–
London wäre die Stadt gewesen, Englisch als Muttersprache, Zeit dieses Jahrhundert.
–
Auch nachdem ich den gelernten Beruf des
Weitere Kostenlose Bücher