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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Links ist nicht zugegen, krankheitshalber. Zum Schluss sitzt Kähler wie jemand, der ein Kuckucksei bekommen hat. Vereinbarung, dass ich das Nachwort zu sehen bekomme, selbstverständlich. Der Wunsch des Autors, des ausländischen, ist auch ein Alibi. Dann Imbiss im Klub, wo Kähler mir leid tut; er muss es spüren, dass er die Rolle des notwendigen Übels spielt, niemand wird direkt zu ihm, auch nicht im andern Gespräch. Jurek Becker kommt dazu, völlig unbefangen. Auf meine Frage, wann der Schriftsteller-Kongress stattfinde, sagt er (auch für den Funktionär hörbar) munter, wie er sich schon freue darauf, die Hände reibend, er habe schon ganz wunde Hände vor Händereiben aus Freude. Nach dem Theater wird man sich nochmals treffen, aber ohne Funktionär. Unter uns, sagen sie. Keine Verschwörung. Nur hat es keinen Zweck, wenn Funktionäre dabei sind; kein Kontakt, niemand möchte in seiner bleichen Haut sein; ein unglücklicher Mann, ein bemühter Mann, nicht mächtig, vermutlich auch besten Willens und gewissenhaft, übrigens dankt er beim Abschied nochmals, dass er den Autor persönlich hat treffen dürfen, das sei das erste Mal. Resultat: die strittige Rede soll also in das Bändchen kommen. Was von den Lektoren niemand für möglich gehalten hat. Einer sagt: warten wir ab, ob es dabei bleibt. Theater: DIE NEUEN LEIDEN DES JUNGEN W., von Ulrich Plenzdorf . Spricht dem Publikum aus der Seele, Jubel, dass gewisse Sätze öffentlich ausgesprochen werden. Für unsereinen wie ein Lackmus-Papier: die prompte Verfärbung zeigt den Säuregrad der Gesellschaft. Als Stück 91 sehr simpel, dramaturgisch primitiv und aus dritter Hand, provinziell also, insofern mühsam. Aber es hat eine purgatorische Wirkung durch seine (auf vielen Umwegen eingebrachte) Unbefangenheit, die Wirkung von Kabarett; eine Art von Volksabstimmung, zwar wird nicht eine Stimme abgegeben, aber Lachen, viel explosives Lachen. Ein Parteimann, der neben M. sitzt, kommt nach langer Vereisung nicht umhin, am Schluss auch zu klatschen; es ist wirklich das Volk, das da jubelt. Nachher mit Schlesinger (Gespräch über die permanente Revolution, worüber wir beinahe die letzte S-Bahn nach dem Westen verpassen) und mit Ulrich Plenzdorf; ein wortkarger, sehr schüchterner Mann. Dabei sei er, so höre ich nachher, heute so locker gewesen wie selten. Viel Unsicherheit scheint dadurch verursacht, dass sie keine andern Länder kennenlernen können; das zehrt am Selbstvertrauen gegenüber dem Ausländer. Die Literatur als Fenster, in jedem Gespräch hier ist zu spüren, dass sie eine Funktion hat. Sie sind unversnobt, sehr wach, einer grossen Herzlichkeit fähig; kein Palaver. Es ist ein Wunsch, wenn man sagt: Auf Wiedersehen! auch von unsrer Seite.
     
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    92 13./14.4.
     
    […]
     
    Das Bewusstsein, allem nicht mehr gewachsen zu sein, fast täglich das Erwachen in diesem Bewusstsein; im Lauf des Tages das zusätzliche Bewusstsein, dass ich den Aufgaben, die sich aus dem Umgang mit Menschen stellen, überhaupt nie gewachsen gewesen bin; ich habe es nur meistens nicht bemerkt.

95 18.-26.4. London
     
    […]
     
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    Keine Verpflichtung in London; ein paar Telefonate würden genügen, um Verpflichtungen zu haben, Gründe dafür, dass man in London weilt. Ich brauche sie nicht.
     
    –
     
    Von I. geträumt . Ihr royales Naturell, das zu London passt; dabei trug sie ein weisses Priesterhemd, ich kurze Tennis-Hosen. Heimlichkeit, Betrug, aber leichtherzig. Nachher rechne ich aus: sie 32, ich 47.
     
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    Karfreitag in Brighton mit meinem englischen Übersetzer , dessen Frau hier Deutsch unterrichtet; dann muss es für M., so denke ich, doch etwas seltsam sein, wenn sie vernimmt, dass sie mit einem Lehrstoff verheiratet ist, und sie mag es auch nicht gehört haben.
     
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    Royal, so vieles hier ist royal, nicht nur Westminster und Buckingham; sogar die schwarzen kleinen Taxi. Und nicht nur der Portier in unserem alten Hotel. Metropole eines vergangenen Imperiums, aber Metropole nicht nur am Trafalgar-Square, Metropole in jeder Gasse und in jedem Pub. Verglichen mit Paris: wilder, zeitgenössischer, vitaler, auch undurchsichtiger, vermute ich, und freier von Illusionen, die Paris noch zu hegen versucht wie eine berühmte alte gekränkte Schauspielerin. Verglichen mit New York: 96 in jedem Detail noch gesitteter. Verglichen mit Berlin-West-und-Ost: eine Metropole.
     
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    In letzter Zeit (vorallem in fremder Umgebung, z.   B. nicht in

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