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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Architekten aufgegeben hatte (zu Recht, denn es ist mir in der Architektur überhaupt nichts Eigenes eingefallen ), blieb mein Verhältnis zur schriftstellerischen Arbeit amateurhaft; ich schrieb zwar hauptberuflich und viel und besessen, aber ohne systematisches Studium der eignen Anlage und Mittel, ohne systematisches Experiment. Eine Produktion nach den Glücksfällen des Gelingens, des wirklichen oder auch nur vermeintlichen. Ich überliess es der vorhandenen Begabung. Wie ein Dilettant; ohne systematisches Training. Und noch als Fünfzigjähriger, als Schriftsteller ausgezeichnet mit Preisen, ohne Hinblick auf ein Œuvre.
     
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    Abends in einem blue-jeans-pub, ich als Rübezahl, aber ich merke es gar nicht immer.
     
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    100 Hier kommen wir nicht weiter. Hier frieren wir ein. Es ist zu spät. Hier kommen wir nicht mehr heraus. Ich weiss nicht, ob Sir Scott es weiss. Wir gehen im Kreis herum. Wenn wir uns nicht bewegen, so frieren wir ein, und also gehen wir im Kreis herum. Es schneit. Sir Scott führt das Logbuch. Es schneit, es schneit, es schneit. Ich glaube, Sir Scott weiss es aber. Eine Seite seines Logbuchs liegt in London, die letzte, ich kann mich auf die Vitrine stützen, und das Blatt ist beleuchtet, die Schrift leserlich. Ich kaufe als Postkarte: THE LAST ENTRY WRITTEN BY CAPTAIN R.F. SCOTT ON HIS SOUTH POLAR EXPEDITION OF 1910-1912, zur Zeit als ich geboren worden bin. Wir haben auch sein Schiff besichtigt, das in der Themse vor Anker liegt, wir haben sein Foto gesehen in seiner Kabine. Sir Scott war ein Snob. Ich beneide Sir Scott um das Ende seiner Geschichte in Eis und Schnee, es war vorauszusehen bei so viel Eis und Schnee. Heute in London schneit es nicht, es blüht.

101 27.4. Berlin
     
    Hier noch immer ein langsamer Frühling; das Gefühl, man sei schon etwas lange hier. Inbegriffen die Post, die an die Adressen in der Schweiz geht und umgeleitet wird: nichts von Freunden dort, nichts von Landsleuten, jedenfalls nichts Persönliches. Das Merkwürdige daran ist nur, dass es mir auffällt, nachdem ich die eingegangene Post durchgesehen habe, und merkwürdig vorkommt. M. über die London-Reise sehr glücklich; wie sie alles, was man in London gekauft hat, Ginger-Marmelade, Pfeifen, Postkarten aus dem Britischen Museum, ein Blake-Plakat etc., auf dem Küchentisch ausbreitet zu unserem Fest. Abends zu Anna und Günter.
     
    P.   S.
     
    Es kam zu einem langen Gespräch zu viert: über Grass als politisch-öffentliche Figur und als Schriftsteller. Er sieht seine politische Aktivität jetzt als eine Phase, also in der Hoffnung, sie sei vorbei. Dabei bereitet er gerade eine Rede zum 1. Mai vor. Es scheint, dass er noch nicht in einer grossen Arbeit ist; er sagt oft, sehr oft, dass er jetzt zeichnet, nichts lieber als Zeichnen. Was die politische Phase an literarischer Potenz gekostet hat, ist nicht auszumachen; immerhin lässt er diese Frage jetzt zu. Die Gefahr der Verbravung, Kastration der Fantasie durch den politisch-bedingten Trend ins Pragmatische, Didaktische. Er ist nicht einverstanden, teilt solche Bedenken gar nicht, hört sie sich aber an; das war vor einem Jahr noch nicht möglich.

105 29.4.
     
    Bei Uwe Johnson, Besprechung meines Manuskriptes REGEN (ich sagte ihm vor einiger Zeit, es sei misslungen, und er wollte es sehen, bevor ich es wegwerfe) in Anwesenheit beider Frauen. Nicht leicht für ihn, da die Arbeit gründlich missraten ist; sein Verdikt kommt denn auch ohne Floskeln.
     
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    Seit London wieder zuviel getrunken, point of no return, und dann jeder Abend um eine Flasche zu lang, nachher leichte Herzbeschwerden, Gefühl von Unmündigkeit, daraus die Empfindlichkeit, man fühlt sich entmündigt durch jede Lappalie.
     
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    Johnson hat recht, es liegt an der Optik; der Alte kann sich nicht selber darstellen. Hingegen halte ich das Thema, im Gegensatz zu Johnson, für ein Thema; mein Thema. Was er nicht glaubt; er erlaubt es nicht.

106 1.5.
     
    Herzbeschwerden den ganzen Tag. Gestern Jurek Becker hier, ich bringe ihn später zu Uwe Johnson. Alles läuft schief, sehr schief. J.   B. ohne Ahnung, woher Johnson kommt, arglos; U.   J. erschreckend, zuerst lässt er den Gast einfach unangesprochen, und als er ihn später anredet, fragt er, ob Becker wisse, dass die Drogen aus dem Orient über die DDR hereinkommen. Als hafte Becker für die DDR. Ich versuche mich als Moderator. Auf die unglückliche Frage von Becker, ob U.   J. in der DDR gelebt habe, sagt

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