Aus dem Berliner Journal
das die Silhouette dominiert ( ich selber bin seinerzeit bei einem architektonischen Wettbewerb ausgeschieden und zwar schon im ersten Rundgang, weil man eine solche Dominante keinesfalls wollte) als sogenanntes Wahrzeichen von Ost-Zürich. Es fehlt nicht an diesbezüglichen Witzen, die aber nichts ändern. Die Brücke, die den früheren Hauptbahnhof mit Ost-Zürich verbindet, ist auch von Ost-Zürchern nur mit besonderen Tagesscheinen zu betreten, daher meistens leer. Wie bei allen Brücken sind die Pfeiler umwickelt mit verrostetem Stacheldraht. Die genaue Anzahl der Menschenopfer ist bekannt, wenn auch umstritten. Natürlich wird man von Ausländern immer wieder danach befragt. Was das Leben betrifft, so hat es sich hüben und drüben mit den Jahrzehnten eingespielt. Hüben und drüben sind die Sorgen sehr verschieden, darüber wäre viel zu sagen. Es war ein regnerischer Tag; mein ausländischer Gast knipste trotzdem, wo immer die Mauer zu sehen ist. Was soll man noch sagen. Auch West-Zürich hat heute einen Hauptbahnhof, einen neuen. Der Zürichberg, wo früher die Reichen wohnten, gehört heute zu Ost-Zürich, die Banken an der Bahnhofstrasse hingegen zu West-Zürich. Alles in allem kann man sagen, dass wir, im Gegensatz zu ausländischen Gästen, die Mauer nicht grotesk finden. Einige Strassen und Plätze sind umbenannt worden, sie tragen die Namen der neueren Weltgeschichte, ohne deswegen ihre provinzielle Atmosphäre verloren zu haben; Namen von Siegern, hüben und drüben natürlich andere. Sogar die Brücken heissen hüben und drüben anders; in 115 der Mitte wächst Moos. Der Stacheldraht, der meinem ausländischen Gast immer wieder auffiel, ist eigentlich überholt, daher verrostet und oft von Sträuchern überwuchert; in den letzten Jahren sind modernere Massnahmen getroffen worden. Die Mundart hat sich erhalten, aber es wird gesagt, dass wir hüben und drüben nicht mehr die gleiche Sprache reden. Beide Seiten behaupten, dass sie demokratischer leben. Eine kleine Insel in der Limmat, das sogenannte Bauschänzli, was früher ein Biergarten war, ist heute auch für West-Zürcher nicht mehr zu betreten; dort zu sitzen und ein Bier zu trinken, Blick auf das nahe Ost-Ufer, wäre wegen der Spruchbänder auf der andern Seite ohnehin nur ärgerlich. Vielleicht gehört man doch weniger zusammen, als man früher immer gemeint hat. Was wir hüben und drüben noch gemeinsam haben: die Aussicht auf die Föhn-Gebirge, das bekannte Elfuhrgeläute, die Möwen, auch einige Schwäne. Zumindest den Jüngeren, die kaum noch eine persönliche Erinnerung an das alte Zürich haben, ist es selbstverständlich geworden, dass die Limmat eine historische Grenze ist. Mein ausländischer Gast versuchte mit einem von ihnen zu sprechen; er wusste nicht einmal genau, wie es zu dieser Mauer hat kommen müssen. Das Zürichhorn, heute noch ein schöner Park am östlichen Ufer, gehört wiederum zu West-Zürich; es ist nur mit öffentlichen Booten zu erreichen durch einen Korridor über den See, die Bojen sind in der Nacht erleuchtet, bei Nebel ist der Verkehr sicherheitshalber eingestellt. Die Maschinen-Skulptur von Tinguely steht noch immer an ihrem Platz. So weit kam ich mit dem ausländischen Gast aber nicht. Die Mauer, die er so unermüdlich knipste, ist schliesslich überall dieselbe, Beton und Stacheldraht, stellenweise ist oben ein Beton-Rohr 116 befestigt, dessen Rundung dem Flüchtling keinen Griff bietet. Es muss sehr schwierig sein, dieses graue Hindernis zu überklettern, selbst wenn nicht geschossen würde; Spitzensportler haben die Anlage geprüft. Dahinter zehn bis fünfzehn Meter mit dem Rechen gekämmter Sand, damit Fusstritte zu erkennen sind, dazu die Bogenlampen, die diese verbotene Zone auch in der Nacht erhellen, dazu die Wachttürme; mindestens einen sieht man von überall her. Hunde waren an diesem Tag nicht zu sehen, also auch nicht zu knipsen. Eine gewisse Enttäuschung meines ausländischen Gastes war nicht zu verkennen; offenbar hatte er sich diese Anlagen doch sensationeller vorgestellt. Ihren weiteren Verlauf zeigte ich ihm auf einer Karte, wo die Grenze ja eingetragen ist. Zollikon und Küsnacht usw., wo ehedem die Reichen und der obere Mittelstand wohnten, gehören heute zu Ost-Zürich; Thalwil auf der andern Seite des Sees, der hüben und drüben gleichermassen verschmutzt ist, gehört hingegen zu West-Zürich, ebenso Kilchberg, wo das Grab von Thomas Mann besucht wird. Auch das Joyce-Grab befindet sich
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