Aus dem Berliner Journal
dieser: er sei Schweizer. Ich bitte ihn, vielleicht doch Auskunft zu geben. Das tut er mit Schärfe. Als sei Becker verantwortlich für die DDR. Meine Vermittlung, Becker soll uns berichten, wie er DDR-Bürger geworden ist. Er tut’s ungern, aber er tut’s; Uwe Johnson fragt wie ein Staatsanwalt im Verhör. Wo war das Ghetto? Wie haben Sie Ihren Vater begraben? Der verwirrte Becker gibt einmal eine unnötige Ortsangabe, nämlich wo Oranienburg liegt. Johnson: Das wissen wir. Nachdem Becker so das eine und andere berichtet hat, ohne sich sichtlich reizen zu lassen, sagt Johnson: Nun haben Sie die Antwort, Herr Frisch, auf Ihre Frage. Als ich zuhause bin, sein Anruf: er wisse, dass sechs Millionen Juden, sogar acht Millionen, wie er herausgefunden habe, und warum ich als Schweizer meine, ich müsse Herrn Becker auffordern, ihm das zu erzählen. – Ich rate ab, das Gespräch jetzt nach einigem Alkohol zu führen; wir treffen uns heute um sechs Uhr in einer Kneipe. Leider fühle ich mich miserabel; Herz-Medikament ohne Wirkung.
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107 Aussprache in der Kneipe von beiden Seiten sehr sorgsam. Kein Zerwürfnis, hingegen der Fehler, dass jeder mit der Selbstsicherheit des andern rechnet und nicht mit einem rohen Ei.
108 3.5.
Diese schriftlichen Anstrengungen gegen das tägliche Vergessen und was dann im Netz hängen bleibt: dasselbe, dasselbe, dasselbe.
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109 4.5.
[…]
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Kein Alkohol, es geht nur strikt; schwierig nur in der Geselligkeit. Wie damals nach der Hepatitis, als ich es neun Monate lang durchhielt: man hört die andern zu genau, sich selber auch. Zeitweise hört man lauter Zeug, das zu streichen wäre; diese Pseudo-Lebhaftigkeit mit lauter ready-made-Gedanken, ready-made-Geschichten, Repetitionen, unter Intellektuellen der flinke Schlagabtausch von Kenntnissen, ohne dass sie der Entstehung eines Gedankens dienen. Später am Abend, der um zehn Uhr schon zu lang wird, kommen die Ressentiments offen zum Zug, teils witzig, oder die Rechthaberei drängt zu Wiederholungen, die von Mal zu Mal etwas schlechter ausfallen; Blödelei als Versöhnung oder Gedankenflucht nach allen Seiten. Ich komme mir wie ein Wächter vor und ekelhaft, dabei habe ich selber wenig zu sagen, wenn nicht Alkohol die Kontrolle aufhebt.
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Gestern mit Wilhelm Killmayer , der wie immer nur wenig trinkt; ein guter Abend, mehr als Zeitvertreib. Wenn jeder auf ein paar Gedanken kommt, die er nicht schon gehabt und früher schon ausgesprochen hat, dank der Gegenwart des andern.
111 Aus Heft 2 [1973/74]
113 Die Bahnhofstrasse, berühmt als Schaufenster unsres Wohlstandes, gehört zu West-Zürich; sie beginnt am See und endet an der Mauer; der frühere Hauptbahnhof, ehedem das architektonische Ziel dieser Strasse, gehört heute zu Ost-Zürich. Was die Sieger sich damals gedacht haben, als sie den Verlauf dieser Grenze bestimmten, ist für uns unerheblich. Es gibt diese Mauer nun einmal. Geschichte ist Geschichte und bestimmt unsern Alltag hüben und drüben. Warum, zum Beispiel, gehört der Lindenhof (ein Hügel in der Altstadt mit römischen Resten) zu Ost-Zürich, und dabei ist er nur mit Weidlingen (eine altertümliche Art von Ruderkähnen) zu erreichen als eine Enklave in West-Zürich, eingezäunt mit Stacheldraht. Die Brücken über die Limmat sind alle noch erhalten; gewisse Ausländer können passieren, wenn sie Ausweise haben, wir natürlich nicht. Und dann berichten sie, wie es drüben aussieht; man mag es eigentlich nicht mehr wissen. Ich bin in Hottingen geboren und zur Schule gegangen, natürlich erinnere ich mich an das Viertel, das ich heute und voraussichtlich auf Lebenszeit nicht mehr betreten kann. Meine Eltern sind beide tot, eigentlich habe ich in Hottingen nichts verloren. Neulich mit einem ausländischen Gast habe ich einmal die ganze Grenze abgeschritten von Seebach bis Kilchberg; der ausländische Gast machte immerzu Fotos, dabei konnte ich ihm die Mauer bloss von unsrer Seite zeigen, stellenweise überhaupt nicht. Stellenweise gehört die Limmat in ihrer ganzen Breite (sie ist ein schmaler Fluss) zu West-Zürich; das erübrigt eine Mauer. Der Ausländer knipste trotzdem. Das ist auf unsrer Seite erlaubt, beinahe erwünscht; das erinnert die Welt an eine 114 Ungeheuerlichkeit, die ihr zwar bekannt ist. Die beiden Hochschulen, wo ich noch studiert habe, zeigte ich aus der Ferne; die Technische Hochschule und die Universität, die letztere erweitert durch ein Hochhaus,
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