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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Tagebuch (vom 24.3.1972 bis 25.9.1972) wirkt merkwürdig provinziell; aber warum eigentlich? Das alles ist für einen Mann, der ein Pfarramt hat, kein Gratis-Mut. Macht es seine Sprache? Zuweilen überträgt sich der Biedersinn auf den Kämpfer wider den Biedersinn; sein Biedersinn ist anders, das schon, dabei nicht pfarrherrlich. Zum Schluss (eigentlich schon sehr bald) ist man sehr traurig; es scheint, dass der Mief sich der Analyse entzieht. Oder ist das ein Mangel des Verfassers? Marti weiss, dass auch er nicht von Eitelkeit frei ist; die Hemmung, die aus solchem Bewusstsein kommt, hebt sie allerdings nicht auf. Ich weiss im Augenblick nicht, wie die Publikation in der Schweiz aufgenommen wird; Otto F. Walter, der Verleger, den ich vor der Lektüre nach dem Buch von Kurt Marti befragte, sagte lediglich: Es wird Sie interessieren. Liegt es am Verfasser, das Provinzielle, oder liegt es an dem Raum, in den er zu schreiben hat? Ein vertrautes Problem.
     
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    Heute Abend gibt Günter Grass ein Fest für seine langjährige Sekretärin , dreissig Leute; ich will versuchen ohne Alkohol durchzukommen, ohne einen einzigen Tropfen. Das sind meine Aufgaben.
     
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    Der Brief an Prof. Karl Schmid (UNBEHAGEN IM KLEINSTAAT) vor der Abreise nach Berlin, worin Ähnliches wie in dem Marti-Buch erwähnt wird, ist ohne Antwort geblieben; keine Auseinandersetzung, die mich verpflichtet, zumindest nicht als Schweizer.
     
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    121 M., der es natürlich nicht entgeht, dass ich Tag für Tag an der Schreibmaschine sitze, findet es bedenklich, dass ich von Tag zu Tag notiere. Statt eine grosse Arbeit anzufangen oder darauf zu warten. Vielleicht hat sie recht.
     
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    Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiss, was sonst er tun soll.

122 7.5.
     
    Reise nach Dresden abgeblasen.
     
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    Watergate. Aber was geht es mich an? Verhunzung der Demokratie, der moralische (moralisch im Sinn der System-Moral) Bankrott einer Weltmacht, die unsere Schutzmacht ist. Der Verdächtigte, nämlich der Präsident, kann den Zeugen aus dem Weissen Haus, die ihn vielleicht belasten würden, die Aussage vor dem Untersuchungsausschuss verbieten (empfehlen), eine Groteske der Justiz. Aber was geht es mich an? Lektüre zum Frühstück.
     
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    Uwe Johnson hat mitgeteilt, dass Elisabeth und er befunden haben, ich sei ein aufrichtiger Mensch. Unterschied zwischen ehrlich und aufrichtig. Ein aufrichtiger Mensch (so meine ich) wäre einer, der errötet, wenn man ihm sagt, dass er ein aufrichtiger Mensch sei. Bin ich errötet? Jedenfalls fügte Johnson hinzu, das sei nicht als Lob zu verstehen, als Schmeichelei. Was ich dazu nicht gesagt habe: wenn man keine Erkenntnisse hat, so wird Aufrichtigkeit oder schon der blosse Versuch, aufrichtig zu sein, ein Ersatz. Eine Flucht auch aus der Langeweile, eine gelassene Art von Verzweiflung an sich selbst. Übrigens hat er nicht gesagt, was Elisabeth und ihn zu diesem Befund geführt hat.
     
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    Nachdem ich jetzt einiges mehr weiss aus seinem Bezirk, Wolf Biermann wiedergelesen : DEUTSCHLAND. EIN 123 WINTERMÄRCHEN; FÜR MEINE GENOSSEN. Villon, Heine, Brecht, aber er ist kein Epigone auf Papier; Biermann ist eine geschichtliche Figur heute und hier. Das weiss er. Seine Person und sein Talent sind eins, seine Biographie und sein revolutionärer Auftrag sind eins. Wenn er in den Westen überwechselte (was den DDR-Behörden so passen möchte), gäbe es keinen Wolf Biermann mehr für alle Zeit; sein Gedicht wäre das Gedicht eines Literaten, eines Unterhalters, eines Epigonen. Was es jetzt nicht ist. Die Biographie ist entscheidend. Sie können ihn fertigmachen, aber nicht sein Gedicht, wenn er sich nicht aufgibt. Es liest sich heute wie die verbotene Stimme einer Epoche, von der eines Tages, wenn sie so oder so vergangen ist, nichts Gleichwertiges übrigbleibt; allein der Protest, der revolutionäre, wird sein Gewicht behalten.
     
    […]

124 9.5.
     
    Wenn man beim Erwachen keine Ahnung hat, was zu tun ist: eine Rentner-Existenz, sobald ich meine Arbeit wegen Misslingen habe aufgeben müssen. Ohne einen andern Einfall. Erwacht mit diesem Bewusstsein stehe ich sofort auf –
     
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    Was es zu tun gibt: Verwaltung des früheren Œuvres. Soll man heute ein Stück in Athen aufführen lassen? In der Tschechoslowakei? Wieder jemand möchte das oder das verfilmen. Was vorlesen in DDR-Berlin? Und so fort

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