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Aus dem Berliner Journal

Aus dem Berliner Journal

Titel: Aus dem Berliner Journal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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in West-Zürich, das Büchner-Grab hingegen in Ost-Zürich. Gräber wurden nicht versetzt. Auch Geburtshäuser, z.   B. das Geburtshaus von Gottfried Keller, hat man belassen. Zum Schluss tranken wir ein Bier und unterhielten uns über anderes. Es ändert ja nichts an der Mauer, wenn unsere ausländischen Gäste sie einfach grotesk finden. Unser Achselzucken missverstehen sie wahrscheinlich. Es wird immer noch auf Menschen geschossen. Die Tonhalle befindet sich in West-Zürich; ich glaube, sie darf sich hören lassen. Vom Zürcher Schauspielhaus, ehedem ziemlich berühmt, hört man jenseits der Limmat gar nichts mehr; es soll noch immer in Betrieb sein. Was noch interessiert einen ausländi 117 schen Gast? Unser Leben ist alltäglich, wie gesagt, hüben und drüben. Unterschiede des Komforts. Viele auf unsrer Seite begnügen sich mit Erbarmen, das in Herablassung übergeht, doch gibt es auch einige, die sich ernsthaft um Entspannung bemühen; die haben es schwer, da es hüben und drüben, trotz aller Unterschiede, Privilegierte und andere gibt, und natürlich sind es hüben und drüben die Privilegierten, die den Zustand unerbittlich bejahen. Wie es weitergeht? Ich glaube nicht, dass es in erster Linie von den Zürchern abhängt; das glaubt eigentlich niemand mehr. Zum Schluss ermunterte ich meinen ausländischen Gast, die Mauer auch von der andern Seite zu besichtigen; ob er knipsen kann, weiss ich im Augenblick nicht. Ich gab ihm die Adresse von zwei Freunden.
     
    118 Einladung vom Schriftstellerverband der DDR zu einer Lesung angenommen ohne Bedingung, was gelesen wird, was nicht. Also eine Frage des Taktes, eine taktische Frage, wobei ich mir bewusst sein muss: es ist keine öffentliche Lesung in dem Sinn, dass kommen kann, wer eben mag. Nur Leute vom Verband, d.   h. Kollegen und Funktionäre. Nun kenne ich inzwischen schon den einen und andern; es fragt sich, ob sie, wenn sie im Verband zusammen sind und wenn es zu einer Diskussion kommt, dasselbe Gesicht haben, denselben Humor, dasselbe Vokabular usw. Alles wird auf Tonband aufgenommen; nicht ohne Anfrage des Gastes. Ich bin einverstanden; das Tonband gilt nicht mir, denke ich, nicht in erster Linie, und überdies finde ich es gut: die jovialeren Töne (wenn der Staat nicht mitschneidet) kenne ich bereits. Was lesen? Ich habe übrigens die Einladung selber angeregt; eine Chance. Ein Bundesdeutscher etwa gleicher Gesinnung käme noch nicht in Frage; also die Guten Dienste der Schweiz, was mich allerdings nicht verleiten wird, Schweiz zu repräsentieren. Ich bin in der Tat sehr gespannt, fast erregt bei der Vorstellung, dass Texte ernstgenommen werden; ein Test für mich.
     
    –
     
    Ich werde immer enger.
     
    –
     
    […]

119 5.5.
     
    Kurt Marti: ZUM BEISPIEL: BERN 1972, Ein politisches Tagebuch . Ein Protokoll über die schweizerische Spielart von Faschismus innerhalb einer demokratischen Verfassung; die Behandlung der Dienstverweigerer vor Gericht und anderes, vielerlei, alles belegt, insofern interessant, wenn auch für mich nicht überraschend. Er kann auch zornig werden, der Tagebuchschreiber, der die Diffamierung dümmster Art an der eignen Person erlebt und die faktische Repression; dem streitbaren Pfarrer wird ein Lehrauftrag an der Universität Bern verweigert. Dies alles meldet er genau und tapfer, ohne ungerecht zu werden; zum Beispiel von Werner Weber lässt er sich schon noch feiern . Was verdriesst mich aber wirklich an diesem Buch aus der Heimat? In erster Linie natürlich die Fakten, die Marti aus seinem Bezirk meldet, dieser Geruch von Hochfinanzoffiziersgesellschaft usw., wobei Marti sich ans Lokale hält, um kompetent zu bleiben, wenn auch gelegentlich mit Blick auf die Dritte Welt, »Brot für Brüder« . Der stinkende Atem der Provinz (Brecht fand ihn in Ost-Berlin) kommt nicht daher, dass Marti sich mit Vorkommnissen von lokaler Wichtigkeit befasst; nicht nur Gott sitzt im lokalen Detail, auch der Faschismus oder wie man diese Herrschaftsform nennen mag. Leider erfährt man von der laufenden Diskussion zwischen Christen und Marxisten, an der Pfarrer Marti gewissenhaft beteiligt ist, nicht viel mehr als eine Nebenfolge: dass einflussreiche Herren ihn als Dreiviertel-Kommunisten bezeichnen, blöd genug, weiss Gott, den er einmal als Genosse Gott zu bezeichnen vorschlägt . Eigentlich wären wir Parteigänger; so wie Parteigängerschaft möglich ist: im grossen 120 Ganzen. Nur gibt es diese Partei gar nicht. Sein politisches

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