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Aus Dem Dunkel

Aus Dem Dunkel

Titel: Aus Dem Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marliss Melton
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wiederzusehen. Der klassisch schönen Schwedin, die größer war als ihre Tochter, sah man ihre dreiundsechzig Jahre nicht im Geringsten an. Ihren Schwiegersohn lebendig vor sich zu haben, obwohl sie ihn für tot gehalten hatte, war Grund genug für sie, ein üppiges Festmahl zuzubereiten.
    Helen, die gerade das Silberbesteck aus der Schublade holen wollte, zögerte. Würde sie an Thanksgiving überhaupt noch mit Gabe zusammen sein? Alles hing davon ab, ob seine Erinnerungen zurückkehrten und inwieweit er sich infolgedessen wieder verändern würde. Ihre Eltern wären natürlich am Boden zerstört. Helen stieß einen Seufzer aus. Ach, verdammt! Das Einzige, womit sie je die Erwartungen ihrer Eltern erfüllt hatte, war die Heirat mit Gabe gewesen.
    »Was macht Pandora denn im Moment?«, erkundigte sie sich, da sie sich seit einigen Wochen nicht mehr mit ihrer ach so perfekten älteren Schwester unterhalten hatte. Gespräche mit Pandora, die mit einem Anwalt verheiratet war und zwei wunderschöne Kinder hatte, machten ihr ihre eigene Unzulänglichkeit jedes Mal nur umso schmerzlicher bewusst.
    Eigentlich war es lächerlich, in ihrem Alter noch Minderwertigkeitskomplexe zu haben. Sie hatte viel erreicht, trotz ihrer Startschwierigkeiten. Schließlich war sie die Fitness-Koordinatorin in Dam Neck, zum Teufel noch mal! Auch wenn ihre Ehe mit Gabe genau so zu Ende gegangen war, wie sie es geahnt hatte, brauchte sie sich für nichts zu rechtfertigen.
    Helen ging in das angrenzende Esszimmer und verteilte das Silberbesteck neben den Tellern aus chinesischem Porzellan. Sie aßen heute im Salon, der nur zu feierlichen Anlässen benutzt wurde. Der Tisch aus Kirschholz glänzte im Sonnenlicht, das durch das vordere Fenster fiel. Ein Bouquet aus langstieligen Rosen erinnerte Helen an ihren Hochzeitstag.
    Wenn Gabes Erinnerungsvermögen nur niemals zurückkehren würde. Wenn er nur so bleiben könnte, wie er jetzt war, dann würde sie noch einmal das Risiko eingehen.
    Als sie das Kopfende des Tisches erreichte, ließ sie ihren Blick durch den Wohnbereich schweifen. Gabe saß zusammen mit ihrem Vater im Wintergarten am anderen Ende des Hauses. Durch die großen Scheiben hinter ihnen war der makellose Rasen zu sehen, der zum Potomac River hin leicht abfiel. In einem Spiegel konnte sie Gabes Gesicht erkennen, während er den Worten ihres Vaters lauschte. Sie hätte erwartet, dass er längst wieder sein militärisches Gehabe an den Tag legen würde – schmale Augen, dünne, zusammengepresste Lippen, eine Miene, die ihr Vater bisher immer bei ihm ausgelöst hatte.
    Aber Gabe zeigte nichts von allem. Sein Gesicht spiegelte nur ehrlichen Respekt wider. Während ihr Vater ohne Punkt und Komma auf ihn einredete, wanderte Gabes Blick zu Mallory, die im Wohnzimmer saß und mürrisch zum Fernseher starrte.
    Gabe runzelte die Stirn, als er allem Anschein nach darüber nachdachte, warum Mallory so ein langes Gesicht machte. Helen wusste, dass ihre Tochter es hasste, zu ihren Großeltern zu fahren. Die Strenge ihres Großvaters führte dazu, dass sie immer wie auf Nadeln saß. Und es gab in der Gegend keine anderen Gleichaltrigen, mit denen sie sich hätte beschäftigen können.
    Von dort aus, wo er saß, hatte Gabe Helens Blick noch nicht bemerkt. Seine Besorgnis um Mallory war so aufrichtig, wie sie es immer vermutet hatte. Und wenn man bedachte, wie er sie selbst ansah, liebte er wahrscheinlich auch sie.
    Als Helen das bewusst wurde, sog sie scharf die Luft ein. Was würde aus diesen Gefühlen werden, wenn sein Gedächtnis zurückkehrte? Konnte er sich ein so reines Herz bewahren, wenn ihm die Gräueltaten wieder einfielen, unter denen er gelitten hatte? Konnte er dann noch etwas anderes im Sinn haben als das unstillbare Bedürfnis nach Rache? Selbst Gedanken an ihr Leben vor seiner Mission mussten einen negativen Einfluss haben. Es war zwecklos, zu hoffen, dass seine Erinnerungen ihn nicht wieder verändern würden. Helen wandte sich ab und wünschte, alles könnte für immer so bleiben, wie es jetzt war.
    Gabe bemerkte, dass der Commander sehr gut über die Situation in Nordkorea informiert war. Mit der gleichen Wortgewandtheit, an die sich Gabe noch aus seinen Jahren an der Akademie erinnerte, brachte Commander Troy ihn auf den neuesten Stand der amerikanischen Außenpolitik gegenüber diesem Land.
    Die Entscheidung, die humanitäre Hilfe zu beschneiden, erklärte Oliver Troy, sei durch einen internationalen Handelsskandal ausgelöst

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