Aus dem Feuer geboren (German Edition)
Platz gefallen. Jetzt hatte sie Namen für die Formen, Bedeutungen für die Namen. Ihr ganzes Leben lang war sie fasziniert von Zahlen gewesen, ob sie nun auf einem Haus standen, einem Taxi oder irgendwo anders, aber es war, als wären sie eine fremde Sprache, die sie nicht verstand. Sie hatte gedacht, sie wäre genau so dumm, wie ihre Mutter immer sagte, bis sie in die Schule gekommen war und dort den Schlüssel gefunden hatte.
Als sie zehn war, steckte ihre Mutter bereits tief im Sumpf aus Alkohol und Drogen, und ihre Ohrfeigen hatten sich zu fast täglichen Prügeln entwickelt. Wenn ihre Mutter nachts nach Hause getaumelt kam, und sie beschloss, dass ihr etwas nicht passte, was Lorna am Tag getan hatte, oder am Tag davor – oder in der Woche davor, es spielte keine Rolle – griff sie sich, was in Reichweite lag, und ging damit auf Lorna los. Oft war Lorna von einem Schlag geweckt worden – ins Gesicht, auf den Kopf, überall, wo ihre Mutter hinkam. Lorna hatte gelernt, mit Angst zu schlafen.
Immer, wenn sie an ihre Kindheit dachte, erinnerte sie sich am meisten an Kälte und Dunkelheit und Angst. Sie hatte Angst, ihre Mutter würde sie umbringen, und noch mehr Angst, dass ihre Mutter eines Nachts nicht mehr nach Hause kommen würde. Wenn es eine Sache gab, die Lorna ohne Zweifel wusste, dann, dass ihre Mutter sie nicht gewollt hatte, ehe sie geboren war, und hinterher noch weniger. Sie wusste es, weil das die Begleitmusik ihres Lebens war.
Sie hatte gelernt, zu verbergen, was Zahlen für sie bedeuteten. Sie hatte nur ein einziges Mal jemandem davon erzählt – ein Mal! – in der neunten Klasse, als sie sich in einen Jungen aus ihrer Schule verliebt hatte. Er war süß gewesen, ein wenig schüchtern, nicht unter den beliebtesten Kindern. Seine Eltern waren sehr religiös, und er durfte nie auf Schulfeste gehen oder tanzen lernen oder irgendetwas in dieser Richtung, aber das störte Lorna nicht, weil sie auch nie solche Dinge tat.
Sie redeten viel, hielten sich an den Händen, küssten sich ein wenig. Dann hatte Lorna allen ihren Mut zusammengenommen und ihr tiefstes Geheimnis mit ihm geteilt: Manchmal wusste sie Dinge, ehe sie passierten.
Sie erinnerte sich noch genau an den Ausdruck unbeschreiblichen Ekels, der auf seinem Gesicht gelegen hatte. „Satan!“, hatte er sie angespuckt, und dann nie wieder mit ihr gesprochen. Wenigstens hatte er es niemandem erzählt, aber das lag wahrscheinlich daran, dass er keine Freunde hatte, denen er es erzählen konnte.
Sie war sechzehn gewesen, als ihre Mutter schließlich wirklich gegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Lorna kam von der Schule nach Hause – „zu Hause“ war immer wieder woanders, denn sie zogen normalerweise um, wenn die Miete überfällig war – und alle Sachen ihrer Mutter waren verschwunden. Die Schlösser waren ausgewechselt, ihr eigener kleiner Haufen Besitztümer lag im Müll.
Ohne einen Ort zum Leben hatte sie das Einzige getan, was sie tun konnte: Sie hatte Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen und sich selbst ins Pflegefamiliensystem eingewiesen.
Zwei Jahre lang in Pflegefamilien zu leben war nicht toll gewesen, aber auch nicht so schlimm, wie ihr Leben vorher gewesen war. Wenigstens brachte sie die Highschool zu Ende. Sie wurde von ihren Pflegeeltern nie geschlagen oder missbraucht. Sie schienen sie auch nie sonderlich zu mögen, aber ihre Mutter hatte ihr oft genug gesagt, dass man sie einfach nicht gern haben konnte.
Sie verkraftete es. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag fiel sie aus dem System und war auf sich alleine gestellt. In den dreizehn Jahren danach – eigentlich ihr ganzes Leben – hatte sie alles getan, um nicht aufzufallen, unter dem Radar zu bleiben und nie, nie ein Opfer zu sein. Niemand konnte sie abweisen, wenn sie sich nicht anbot.
Sie war in einem kleinen Kasino im Reservat der Seminole-Indianer in Florida zum Glücksspiel gekommen. Sie hatte gewonnen, nicht sehr viel, aber einige hundert Dollar bedeuteten ihr einiges. Später war sie dann in einige Kasinos entlang des Mississippi gegangen und hatte noch mehr gewonnen. Kleine Kasinos gab es überall. In Atlantic City hatte es ihr nicht gefallen, in Las Vegas gab es von allem zu viel: zu viel Neon, zu viele Menschen, zu heiß, zu grell. Reno passte besser zu ihr. Kleiner, aber nicht zu klein. Besseres Klima. Acht Jahre nach ihrem ersten kleinen Gewinn in Florida gewann sie regelmäßig fünf- bis zehntausend Dollar in der Woche.
So viel Geld war eine
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