Aus dem Leben eines Lohnschreibers
als habe Kant nie gelebt und Goethe seinen »Werther« nie geschrieben. Die neuerliche Kritiklosigkeit Weihnachten gegenüber paßt in dieses Weltbild so wunderbar hinein - wie der Erfolg des katholischen Weltbild Verlags und seiner Buchhandlungen.
Ich deutete das Schweigen der Redakteurin als Zustimmung und fuhr fort: In immer mehr Talkshows hockten Leute herum und geständen ungeniert, daß sie sonntags in die Kirche rennen. Zum Auswachsen sei das. Und Sandra Maischberger, unser aller Traumfrau, nickt milde zu dieser penetranten Rückwärtsströmung. Und Tausendsassa Hellmuth Karasek, offenbar kurz vorm Konvertieren, will, daß sein Erinnerungsbuch an Weihnachten verschenkt wird und grummelt mopsig, er könne sich schon vorstellen, daß dem sich ausbreitenden Islam nur mit einer intakten christlichen Religion begegnet werden könne. Oh Gott, wo bleibt die Stimme der Vernunft! Wahnsinnigen Muselmanen (ich vermied absichtlich das Wort »Islamisten«, um schon jetzt klarzumachen, daß ich auf politisch korrekte Bezeichnungen keinen Wert legte) kann man nicht mit dem Wahnsinn einer wiederweckten Christgläubigkeit begegnen. Wie das aussieht, haben uns ja die Bush-Wähler vorgeführt. Nur die Wonnen der Weltlichkeit und eine gepflegte Kultur der Religionsskepsis werden irgendwann einmal auch den ein paar Hundert Millionen Anbetern Allahs und den 50 Millionen rechtgläubigen Amis klarmachen, daß ein säkulares Leben weniger Hysterie und mehr Würde bedeutet. In 20 Jahren, wenn es so weit ist, daß 99 Prozent der Pisa-Studenten den Namen Marx noch nie gehört haben, kann man dann auch wieder an dessen gar nicht so dummes Wort von der Religion als Opium des Volks erinnern. Glauben ist Gift. Wie sang John Lennon? Von wegen Gott: I just believe in me.
Das alles sagte ich nicht der Redakteurin, das hörte ich mich bereits in der Talkshow sagen - und ich sah schon, wie Jürgen Fliege die Hände pastörlich vor sein jungenhaftes Quotengesicht schlug (betete er für meine verirrte Seele oder verbarg er sein Lachen, weil er womöglich meiner Meinung war?), während Stölzl Luft holte, um mich endlich mit einer konservativen Ermahnung zu unterbrechen und der Evangelenboß Huber die Lippen schmaler denn je zusammenpreßte, energisch den redlichen Protestantenkopf schüttelte und mir mit den Worten ins Wort fiel, daß er mir jetzt aber wirklich ins Wort fallen müsse.
»Ich dachte, Sie sind für Weihnachten«, sagte die Redakteurin plötzlich. Ich verstand nicht. »Sie haben doch jede Menge über Weihnachten veröffentlicht«, sagte sie. »Richtig«, sagte ich, »kein Weihnachten, ohne daß ich irgendwo eine Weihnachtsgeschichte schreibe, sogar zwei Weihnachtsbücher gibt es von mir.« - »Genau«, sagte sie und nannte einen Titel: »Lametta Lasziv.« Ich war gerührt. Selten, daß Talkshowredakteure Buchtitel von einem richtig wiedergeben können. »Gelesen?« Nein, das nun nicht. »Aber der Titel«, sagte ich, »legt doch ein Weihnachtsverständnis nahe, das sich nicht ganz mit der Kirche decken dürfte, nicht einmal mit dem der Christbaumschmuckabteilung von Karstadt.«
Schweigen. Ich fragte: »Wieso laden Sie mich ein, wenn Sie einen Weihnachtsengel brauchen?« Sie sagte, der Redaktion sei ein Text über Weihnachten von mir aufgefallen, der soeben in der Dezembernummer einer Monatszeitschrift erschienen war (im anspruchsvoll herumtuenden »Cicero«, das sich »Magazin für politische Kultur« nennt). Diesen Text hatte ich in der Tat erst vor kurzem geschrieben. Er war mir nicht leichtgefallen, weil ich meine Antiweihnachtsargumente nicht noch einmal wiederholen wollte. Aus diesem Grund lobte ich Weihnachten. Als freier Autor habe man seine Ruhe. Weil die meisten Redakteure und Lektoren Ferien machten, werde man nicht mit Textablieferungsanfragen bedroht, es sei denn, man habe den Fehler gemacht, einen Text für eine Silvesterausgabe zuzusagen. Vor Weihnachten ans andere Ende der Welt in die Südsee zu fliehen sei Unfug, nicht nur umweltverpestungsmäßig, dafür sei ich nicht hinreichend ozonlochinformiert, sondern weil man noch in Madagaskar oder auf der Insel Mauritius in den Hotels mit Christbäumen empfangen werde. Weihnachten könne man nicht entfliehen, es sei daher sinnvoller, zu Hause zu bleiben und die Weihnachtstage in innerer Emigration zu verbringen.
Ich hatte geglaubt, die Ironie sei mit dem Hinweis auf die innere Emigration klar. Damit hatte ich doch deutlich gemacht, daß ich Weihnachten für die Pest
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