Aus dem Nichts ein neues Leben
jetzt?«
In der Nacht – die ganze Kolonne stand noch auf der Straße und konnte nicht vor und zurück, weil von Allenstein deutsche Truppen heranrückten und Feldpolizei rigoros alles vom Weg drängte, was ein schnelles Vorwärtskommen behinderte – verschwanden aus sieben Verpflegungswagen zwanzig Kisten mit Konserven, Brot, Butter, Schmalz, Öl und Dauerwurst. Man merkte es gar nicht in den bis unter die Planendecke reichenden Kistenbergen, daß hier und da eine freie Stelle war. Vor Aufregung schwitzend, lautlos und wie gleitende Schatten in der Nacht, transportierten Paskuleit, Busko und Felix Baum die Kisten ab. Ab der neunten Kiste kam noch Ortsbauernführer Lusken hinzu, der die gelähmte Juliane Brakau in seinem Wagen transportierte und sie jetzt, wo sie schlief, allein lassen konnte.
Opa Jochen unterhielt unterdessen jeweils die Besatzung des Wagens, der hinten bestohlen wurde, mit Witzen und fröhlichen Jagderzählungen aus Masuren. Er war in solchen Geschichten unerschöpflich, erhielt zum Kehleschmieren überall ein paar Schlucke Schnaps und war nach dem Abtransport der zwanzig Kisten soweit, daß Paskuleit ihn abschleppen mußte. Selbst Pfarrer Heydicke machte mit. Um sie abzulenken, klopfte er mit den Offizieren des Transports einen mörderischen Skat.
Am frühen Morgen endlich ging es weiter. Das rollende Verpflegungslager zog nach Elbing, der Treck nordwärts nach Braunsberg. Traurig hockte Opa Jochen auf seinem Kutschbock und blickte den graugrünen Lastwagen nach.
»Da fährt Fressen für ein ganzes Jahr –« sagte er. »Eine Schande ist das, eine Schande. Warum ist von euch Holzköpfen nicht früher einer auf die Idee gekommen, uns vollzuladen! Brauchen wir Küchenschränke, he? Bettgestelle? Kommoden? Sessel? Eckbänke? Zu Fressen brauchen wir … dann raucht der Ofen! Wer gut kackt, kann auch gut arbeiten. Maanchen, wir hätten die ganzen Wagen umladen sollen!«
Der Frost wuchs. Oma Berta kroch vollständig ins Stroh und rührte sich nicht. Ihr Zusammenkriechen war so vollkommen, daß Opa Jochen am frühen Nachmittag anhielt und brüllte: »Alles halt! Ich habe meine Berta verloren. Das Luder muß aus'n Wagen gefallen sein! Zurück!«
Aber zurück war unmöglich. Es gab nur ein Vorwärts.
Felix Baum und Busko, die mit Motorrad und Fahrrad den zurückgelegten Weg absuchten, kamen ohne Ergebnis zurück.
Der Treck stockte. »Ohne meine Berta fahr ich nicht weiter!« schrie Jochen Kurowski. »Wir waren einundfünfzig Jahre zusammen!«
»Vielleicht ist sie mit der Versorgungskolonne mitgefahren?« sagte Paskuleit. »Du hast ihr ja immer vorgeredet: Essen ist das wichtigste.«
»Zurück!« brüllte Opa Jochen wieder. Verzweifelt suchte er noch einmal in dem langen hohen Bauernwagen. Felix Baum raste noch einmal zurück zur Kreuzung beim Bahnhof Schlobitten. Er war kaum weg, fand Kurowski seine Frau. Tief unten im Stroh, unter einer Decke und zusammengerollt unter dem Küchentisch. Es war ein Rätsel, wie sie hier Luft bekam, – aber sie schlief fest und glücklich in der eroberten Wärme. Außerdem war sie schwerhörig.
»Da ist se«, sagte Opa Jochen. »Undenkbar, daß ich meine Alte verliere.« Es lag soviel Zärtlichkeit in seiner Stimme, daß Paskuleit darauf verzichtete, Kurowski einen Idioten zu nennen. Er deckte Oma Berta wieder mit der Decke und dem Stroh zu und winkte zum ersten Wagen, zu Pfarrer Heydicke. »Weiter!«
Die Kolonne der Wagen und Pferde, Ochsen und Kühe setzte sich wieder in Bewegung. Keiner von diesen Menschen, die der Vernichtung davonliefen, ahnte, daß seitlich von ihnen der Russe durchbrach, daß sie bereits von Deutschland, ihrer großen Sehnsucht, abgeschnitten waren und daß sie zufällig durch einen schmalen, noch nicht eroberten, freien Schlauch Land zogen. Links und rechts von ihnen und hinter ihnen brannten die Dörfer, starben die Menschen auf den Straßen, wurden wie Vieh zusammengetrieben, rollten Panzerketten über steifgefrorene Leiber, drückten T34 die Wagen in die Gräben, ging Ostpreußen unter in Feuer, Blut und Tränen.
Die Adamsverdrusser aber zogen weiter wie unter der hohlen Hand Gottes. Sie hatten Kühe bei sich, geschlachtete und im Frost bestens konservierte Hühner und Schweine, zwanzig Kisten Konserven und Wurst, Fässer mit Butter und Schmalz, Säcke mit Zucker, Mehl und Hafer. Sie hatten vorgesorgt, weil Paskuleit es ihnen geraten hatte.
»Kinder, was habt ihr mich als Ortsgruppenleiter beschissen«, sagte Baum ein paarmal.
Weitere Kostenlose Bücher