Aus dem Nichts ein neues Leben
»Monatelang.«
»Jahrelang, du Rindvieh.« Paskuleit lachte dunkel. »Seit zwei Jahren haben wir schwarz geschlachtet und gehortet! Grenzland – unruhiges Land … das haben wir schon in der Schule gelernt.« Und zu Erna Kurowski, die wie ein Mann die Kutschpferde dirigierte und ihre Kinder ebenfalls beim Einbruch des grausamen Frostes wie Hundewelpen unter Stroh gesteckt hatte, sagte er: »Sag's keinem weiter, aber ich glaube nicht, daß wir alle zusammenbleiben können. Es kommt einmal der Tag, wo jeder für sich selbst sorgen muß. Aber wir, Erna, wir Kurowskis und Paskuleits, wir bleiben zusammen. Sie müßten uns schon einzeln abhacken wie Äste von einem Baum!«
Sie zogen über Nebenwege, über Neumarck, Ebersbach, Tiedmannsdorf, Schalmey und quer übers Feld nach Pettelkau, weil neue Trecks die Straßen blockierten. Dörfer, die im Aufbruch waren wie vor vierzehn Tagen Adamsverdruß. Menschen, von der Angst getrieben.
Kurz vor Braunsberg geschah das gleiche wie vor einigen Tagen: An der Kreuzung der beiden Straßen stand ein Mann, diesmal in der Uniform eines Politischen Leiters, und regelte den Verkehr. Von Mehlsack wälzte sich eine Kolonne Privatwagen heran, drückte die Flüchtlingsfahrzeuge an den Straßenrand und brauste durch den aufstaubenden Schnee. Die gelben Uniformen hinter den beschlagenen Scheiben waren nicht zu übersehen. »Gelb wie Kinderscheiße!« hatte Opa Jochen sie genannt.
»Sieh nach!« sagte Paskuleit bloß. Felix Baum sauste los. Er bremste sein Motorrad vor dem Mann auf der Kreuzung und hob die Hand zum Gruß. »Ich bin Ortsgruppenleiter Baum aus Adamsverdruß!« rief er. »Heil Hitler, Kamerad!« Dann gab er dem Verdutzten eine gewaltige Ohrfeige, der Mann rollte in den Schnee, Busko ließ einen Wagen quer über die Kreuzung stellen, und die Adamsverdrusser hatten Vorfahrt.
»Er wird immer nützlicher, der Felix«, sagte Paskuleit anerkennend. »Leider ein paar Jahre zu spät …«
Sie kamen nach Braunsberg hinein und wurden aufgesaugt von Hunderten Wagen und Tausenden von wartenden Menschen. Opa Jochen, Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Busko und Lusken sammelten Informationen. Ortsgruppenleiter Baum fragte sich durch, bis er einen Parteigenossen fand, der noch Dienst tat … im Rathaus von Braunsberg saßen noch eine Dienststelle der NSV und der Leiter des Wirtschaftsamtes mit zwei Mann und einigen Tausend Lebensmittelkarten, die jetzt wertloser waren als Klosettpapier. Alles war ratlos. Braunsberg schien die Endstation zu sein.
»Es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke nach drei Stunden, als alle wieder beim Treck waren. »Königsberg ist eingeschlossen. In Pillau sitzen die Russen bereits. Um Marienburg wird gekämpft. Panzerkeile der Russen stoßen nach Danzig und nach Pommern. Alles ist zu! Wohin jetzt?«
»Zum Haff!« sagte Paskuleit.
»Und dann?«
»Auf die Nehrung.«
»Wir können nicht übers Wasser wandeln wie Jesus.«
»Aber wir können über das Eis fahren. Das Haff ist vereist.«
»Das ist unmöglich …«, sagte Heydicke leise und starrte Paskuleit an. »Auf dem Eis sind wir wie auf dem Schießstand. Ein paar Bomben … und ganz Adamsverdruß ersäuft …«
»Bleiben wir hier, überrollt uns der Russe.«
»Wir sind am Ende, Julius.«
»Wir sind nie am Ende, Herr Pfarrer.« Er nahm seine halb gerauchte Zigarette aus dem Mund und hielt sie Heydicke hin. Der nahm sie und rauchte weiter. »Wir lassen uns nicht unterkriegen … das ist die beste Predigt, Herr Pfarrer.«
Sie blieben zwei Tage in Braunsberg, bis sich drei große Trecks gebildet hatten. Sie schlossen sich einer Kolonne an, die über Frauenberg nach Tolkemit ziehen wollte, um dort übers Haff zu kommen. Hier fror es immer besonders dick zu, und in strengen Wintern konnte man von Tolkemit hinüber zum Seebad Kahlberg auf der Nehrung mit dem Schlitten fahren.
Als sich Heydicke, Paskuleit und Opa Jochen bei dem Führer des Trecks meldeten, sahen sie verblüfft, daß es ein junger Oberleutnant war. Um seinen Hals hing das Ritterkreuz. Er hatte blonde Haare, ein jungenhaftes, offenes, fröhliches Gesicht, große blaue Augen und strömte trotz seiner Jugend Ruhe und vor allem Mut aus.
»Wieviel Wagen?« fragte er kurz.
»Neun …«, sagte Heydicke gepreßt. Adamsverdruß war zerrissen worden. Eine Gruppe um Johannes Lusken wollte in Braunsberg abwarten. Juliane Brakau hatte eine Lungenentzündung und glühte vor Fieber. Vierzehn Wagen mit meist alten Leuten blieben zurück. Sie gaben auf. Es war die
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