Aus dem Nichts ein neues Leben
schwärzeste Stunde, und Pfarrer Heydicke segnete die Alten, die bereit waren, auf der Erde ihrer Heimat zu sterben. Eine zweite Gruppe wollte zurück nach Schill gehen, sich dort auf die Reichsautobahn setzen und nach Elbing wandern. Von Elbing, so hieß es, fuhren noch Züge ins Reich. »Du mit deinem Meer!« schrie man Paskuleit an. »Das war ein Fehler, bei dem wir jetzt alle draufgehen! Elbing, das war die Richtung! Leck uns am Arsch!«
Adamsverdruß brach auseinander. Was Jahrhunderte zusammengefügt hatten, zerplatzte in Angst, Entsetzen, Kopflosigkeit und Verzweiflung. So blieben nur noch neun Wagen übrig: Die Familie Kurowski mit Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Franz Busko, Felix Baum, drei unmittelbare Nachbarn Paskuleits und eine junge Frau mit einem Säugling, die erst seit acht Monaten in Adamsverdruß gewohnt hatte und die Frau des Gutsherren Rambsen war. Gottfried Rambsen war irgendwo an der Front als Leutnant. Seine junge Frau kannte man kaum … nun war sie der neunte Wagen. Ein leichter Jagdwagen mit nur einem Pferd davor. Ein Trakehnerhengst. Er hieß ›Goldener Sommer‹. »Er ist mein einziges Kapital –« sagte Julia Rambsen zu Paskuleit. »Mit ihm kann man überall von neuem anfangen …«
Am Abend ging Opa Jochen noch einmal zu dem jungen Oberleutnant mit dem Ritterkreuz. »Warum sind Sie nicht an der Front?« fragte er direkt.
Der junge Offizier lächelte schwach. »Hier kann ich vielleicht vierhundert Frauen und Kinder retten … da drüben« – er nickte ins Weite – »nichts mehr. Was ist mehr wert?«
»Ich bleibe an deiner Seite, Jungchen«, sagte Opa Jochen fest. »Das Ding da um den Hals kannste dir jetzt zum zweitenmal verdienen …«
In der Nacht brach der Treck zum Haff auf. Am Morgen, gegen sieben Uhr – es war noch dunkel – kamen die russischen Flugzeuge. Nur drei Stück, tuckernde, langsame, schwergepanzerte Stahlvögel. Aber sie flogen tief, so tief, daß man glaubte, sie fassen zu können, und sie schossen mit überschweren Maschinengewehren in den Treck und warfen kleine Bomben mit verheerenden Splitterwirkungen.
Der erste Tote war Oma Berta in ihrem Haufen aus Decken, Küchengerät und Stroh.
5
Zuerst hatte man es gar nicht gemerkt. Als die ratternden, feuerspeienden Ungetüme wieder im tiefhängenden, bleigrauen Schneehimmel verschwunden waren und der auseinandergespritzte, in den Straßengräben und unter den Wagen liegende Treck wieder hervorkroch, rannte auch Opa Jochen zu seinem breiten Leiterwagen und hieb mit der Faust auf den Küchentisch, unter dem im Stroh und in Decken gewickelt die Oma lag.
»Komm 'raus!« brüllte Joachim Kurowski. »Mein Gott, is die Alte schwerhörig. Wenn wir im Westen sind, laß ich ihr die Ohren durchblasen! Berta! Wach auf!« Dann erst sah er mitten in der Tischplatte einen Einschuß. Ein zersplittertes Loch, ein einziges nur, aber genau dort, wo Berta Kurowski im Stroh lag. Sicher ein Zufallstreffer, aber er hatte Kurowskis Welt ärmer gemacht.
Mit zitternden Händen wühlte er das Stroh weg. »Julius!« brüllte er dabei. »Herr Pfarrer! Herr Oberleutnant! Die Berta … die Berta …«
Als das Stroh zur Seite geschoben war und die Gestalt in den Decken frei lag, konnte Jochen Kurowski nicht mehr weiter. Er lehnte bleich am Wagen, und Paskuleit wickelte Oma Berta aus ihrer herrlich warmen Umhüllung. Die Kugel des überschweren Flugzeugmaschinengewehres hatte sie genau von hinten ins Herz getroffen. Sie hatte nicht mehr ihren Tod gespürt, vielleicht nur einen kurzen, heißen Schlag, der alles Bewußtsein plötzlich auslöschte. Pfarrer Heydicke zog die Decke wieder über das ruhige, entspannte, noch von der wohligen Wärme gerötete Gesicht. Der Oberleutnant mit dem Ritterkreuz legte den Arm um Kurowskis Schulter. Und plötzlich weinte Opa Jochen, lehnte den Kopf an die Schulter des Offiziers und schüttelte sich im Schluchzen. Es war das erstemal, daß die Familie den Großvater weinen sah – man hatte bisher angenommen, er könne das gar nicht. »Meine Berta …«, stammelte er. Seine Stimme war jetzt wirklich greisenhaft, zurückverwandelt in das Greinen eines Kindes. »Meine alte, gute Berta –«
»Wir haben neunundvierzig Tote im Treck«, sagte der Oberleutnant. Es sollte ein Trost sein. Sie ist nicht allein. Ein Krieg vernichtet nicht einzelne, – er ist ein legitimer Massenmörder. »Und wir wissen noch nicht, wie es weitergeht, Opa. Vielleicht« – er blickte hinüber zu dem zugefrorenen Haff, über das sie in
Weitere Kostenlose Bücher