Aus dem Nichts ein neues Leben
du kannst aufhören mit der dämlichen Herumtraberei … du kriegst deine Marmorkrippe. Versprochen ist versprochen, mein Jungchen …«
»Wo?« fragte Paskuleit kurz.
»Zwischen Curau und Malkendorf. Zwischen zwei Hügelketten.« Felix Baum griff in die Tasche, – er hatte sogar eine Zeichnung angefertigt. Die Hügel, das riesige Reifenlager, der Stacheldrahtzaun, die britische Wachbaracke, die Scheinwerfermasten, die aber nie brannten, der Weg der Pendelposten, der nur bei der Wachgruppe II rund ums Lager ging. Die meisten Posten, vor allem nachts, sparten das hintere Drittel aus, denn dort mußten sie durch unebenes Gelände. »Hier können wir rein, ohne daß einer etwas merkt.«
»Und da ist das Lager auch am sichersten. Von dort bis zum nächsten Weg quer durch die Hügel ist eine Miststrecke. Willst du jeden Reifen erst über hundert Meter tragen, ehe du ihn aufladen kannst?«
»Ich ja!« sagte Opa Jochen laut. »Ich bin kräftig genug. Ich bin ein Kurowski! Ob die Paskuleits soviel Mumm haben –«
»Also dann übermorgen nacht!« Paskuleit blickte Opa Jochen herausfordernd an. »Ein Paskuleit schafft zwanzig Reifen.«
»Ein Kurowski einundzwanzig!« schrie Kurowski. »Macht nur bei uns beiden einundvierzig. Wie kriegen wir die weg?« sagte er nüchtern. »Willste deine einundzwanzig vor dir herrollen?«
»Auch daran habe ich gedacht«, sagte Opa Jochen und verließ den Stall.
Am frühen Morgen, nach der ersten Andacht im Lager, saß Kurowski bei Pfarrer Heydicke in der Bürobaracke.
Heydicke hatte dort ein Dienstzimmer bekommen; er war zum Lagerpfarrer ernannt worden. Trotz besserer Angebote aus dem Hinterland blieb er bei seinen Flüchtlingen.
»Eine Frage, Herr Pfarrer«, sagte Jochen Kurowski mit gefalteten Händen, »liegt mir sehr am Herzen und muß ein Pfarrer entscheiden: Bestraft Gott jemanden, der ein neues Leben aufbaut?«
»Aber nein, Jochen –« antwortete Heydicke verwirrt. »Gott ist bei ihm!«
»Das ist gut, Herr Pfarrer!« Opa Jochen stand auf. »Ich brauche einen kleinen Lastwagen, der so um die fünfzig Autoreifen transportieren kann. Für eine Nacht. Können Sie das organisieren?«
Pfarrer Heydicke konnte es, nachdem Kurowski ihm alles erzählt hatte. Der britische Lagerkommandant selbst lieh dem Pfarrer einen kleinen Dodge. »Ich komme mit«, sagte Heydicke.
Opa Jochen nickte. »Sie sagten ja: Gott ist bei uns! Morgen abend um neune …«
In der Abenddämmerung des nächsten Tages rumpelte der Lastwagen hinaus in das Land zwischen die Flüßchen Helisau und Schwartau. Am Steuer saß, Paskuleit neben sich, Pfarrer Heydicke. Ein einmaliges Abenteuer begann.
8
Hinter Curau, auf einer engen Straße, die sich durch die flachen Hügel wand, kletterte Opa Jochen nach vorne ins Fahrerhaus und quetschte sich neben Pfarrer Heydicke. Von jetzt ab begann es, kriminell zu werden, wenn man in normalen Zeiten gelebt hätte. Aber Ende Juli 1945, in einem Land, das mehr einer Mondlandschaft glich als einem geordneten Staat, einem Land, das wie noch kein Land auf dieser Welt zerstört, zerbombt, zerfetzt, zerrissen war und jeder Überlebende nur den einen Gedanken hatte, auch weiterhin zu überleben, ganz gleich, wie und mit welchen Mitteln, wäre diese nächtliche Autofahrt gar nicht erwähnenswert gewesen, wenn nicht mit ihr ein neuer Abschnitt für die Familie Kurowski begonnen hätte.
Die Städte und Dörfer, die sie durchfahren hatten, lagen in tiefer Ruhe, wie ausgestorben. Ausgangssperre ab 22 Uhr. Befehl der Militärregierung. Wer sich ab 22 Uhr noch außerhalb seiner Wohnung befand, wurde verhaftet und eingesperrt.
Der kleine Lastwagen wurde dreimal angehalten von britischen Feldpolizeistreifen. Einmal in Bad Schwartau selbst, das zweitemal auf der Straße nach Curau, das drittemal wieder im Dorf Curau selbst. Und immer zückte Pfarrer Heydicke seinen vom Lagerkommandanten in Lübeck ausgestellten Fahrbefehl und seinen Ausweis, sprach in einem guten Englisch mit den britischen Offizieren und bekam freie Weiterfahrt, wenn sie sich überzeugt hatten, daß hier ein Mann Gottes auf dem Bock eines Lastwagens saß.
»Mindestens einer von unserer Familie hätte Pfarrer werden und englisch sprechen müssen«, sagte Opa Jochen nach der dritten Sperre. »Jungchen, das muß man sich merken. Entweder Ludwig oder Peter werden englischsprechende Pfarrer –«
»Vielleicht ist mal Russisch wichtiger«, sagte Paskuleit.
Sie hielten zwischen den Hügeln, Felix Baum kam nach vorn gelaufen.
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