Aus dem Nichts ein neues Leben
sich. Gegen einen Pfarrer kam er nicht an.
Um fünf Uhr war die Aktion zu Ende. Der Zaun war unbeschädigt, im trüben Morgenlicht sah man gar nicht, wo die Reifen fehlten, denn Paskuleit hatte angeordnet, sie von verschiedenen Stapeln wegzunehmen.
»Wieviel, Herr Pfarrer?« fragte er und saß müde und schweratmend, von Schweiß überflossen, auf dem Trittbrett.
»Genau neunundsechzig. Alles neue Reifen!«
»Weniger vier für die Kirche, bleiben fünfundsechzig«, sagte Opa Jochen zufrieden. »Damit läßt sich ein Leben aufbauen! Leute, hier tanken wir jede Woche wenigstens einmal nach –«
Die Rückfahrt gelang ohne Kontrollen. In der Scheune eines Bauernhofes zwischen Bad Schwartau und Lübeck – der Bauer erhielt dafür eine komplette Bereifung seines klapprigen DKW – wurde die Beute abgeladen, noch einmal gezählt, und Opa Jochen sagte zu dem Bauern: »Jungchen, wenn ein Reifen fehlt, geht's dir wie dem Bullen, der zum Ochsen wurde. Verstanden?!«
Um acht Uhr fuhren sie wieder ins Lager ein; Pfarrer Heydicke lieferte den Lastwagen ab.
»Ich will nicht fragen«, sagte der Lagerkommandant, »aber ganz privat interessiert es mich: Wo waren Sie mit meinem Wagen?«
»Ich habe eine neue Altardecke geholt und zwei Kerzenleuchter.«
»Mit einem Lastwagen?«
»Gott zu dienen, ist Schwerarbeit, Captain«, sagte Heydicke. »Vergessen Sie nicht … wir fangen ja im Jahre Null wieder an –«
Die Familie Kurowski und Julia Rambsen mit ihrem Trakehnerhengst ›Goldener Sommer‹ verließen das Flüchtlingslager. Auf einmal – die anderen wußten es nicht zu erklären – lief alles wie am Schnürchen, so als hingen alle Kurowskis wie Marionetten in den Händen eines großen Puppenspielers. Am Rande Lübecks, wo es schon ländlich wurde, bekamen sie eine hölzerne Wohnlaube zur Miete mit dem Recht, sie auszubauen. Das kostete sechs Reifen. Bauholz, Nägel, alte, abgeklopfte Ziegelsteine aus Trümmerschutt, Zement und durchgesiebter Trümmersand kosteten zehn Reifen. Zweimal einen Lastwagen leihen: Zwei Reifen! Dann hockte die ganze Familie Kurowski vierzehn Tage lang um einen Berg Steine, klopfte den Mörtel ab und stapelte sie. Der jetzt elfjährige Ludwig und der fünfjährige Peter hämmerten mit, Erna Kurowski mischte von Hand die Mörtelspeise und den Beton, Opa Jochen, Paskuleit, Felix Baum und Busko mauerten die Laube aus und bauten drei Zimmer und eine Werkstatt an. So etwas wie Bauamt, Bauplätze und statische Berechnungen, Baufluchtlinien und Vorschriften, wie die Fenster sein sollten, gab es noch nicht. Wohl begann das deutsche Beamtentum wieder anzulaufen, aber noch waren es Männer, denen der Krieg frisch in den Knochen steckte und die in den anderen Bürgern Kameraden sahen. O selige Zeit! Das sollte sich bald ändern. Nichts wächst auch nach einer totalen Vernichtung schneller nach als die Bürokratie! Auch in den Trümmern blühten als erstes die Disteln …
Ab und zu tauchte Pfarrer Heydicke auf, half dann am Bau mit und kassierte immer einen Reifen. »Ein schamloser Mensch!« knurrte Opa Jochen. »Früher tat man 'nen Groschen in'n Klingelbeutel, heute 'nen Autoreifen!«
Das größte Geschäft machte Paskuleit mit zwanzig Reifen … er tauschte dagegen einen alten Opel P 4. Gleichzeitig mit der Zulassung meldete er sein Gewerbe an und kam zurückgefahren mit einem Blumenstrauß auf dem Kühler. »Die Firma ›Schuhbesohlerei Ewald Kurowski‹ ist gegründet!« schrie er noch vor dem Bremsen aus dem Fenster. Und dann, leiser, indem er die weinende Erna umarmte: »Wir nennen den Betrieb nach Ewald, Erna. So ist er immer bei uns. Verdammt, wir wollen nie daran zweifeln, daß er zurückkommt …«
Als erstes stand die Werkstatt. Erna und Jochen zogen los und organisierten einen großen Ringtausch, dessen Basis die Reifen waren. So bekamen sie Nägel, Gummikleber, Heftzwirn, Pechdraht, Stifte, Zwecken, Stoßplatten, Ösen, eine alte Aufdoppelmaschine und eine verrostete Steppmaschine, die Franz Busko reparierte, Paskuleit schnitzte aus Pappelholz Leisten, und jetzt zeigte sich, daß das Wichtigste, das sie aus Adamsverdruß gerettet hatten, im Treck quer durch Ostpreußen, über die Nehrung und die Ostsee der Rucksack mit den Schusterwerkzeugen war.
Der erste Kunde war ein ausgebombter Bonbonfabrikant. »Den halten wir uns warm«, sagte Opa Jochen, nachdem Paskuleit vier Paar Schuhe besohlt hatte. »Wenn der wieder seine Bonbons zu kochen beginnt, lutschen wir uns in die Höhe!« Es war ein
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