Aus dem Nichts ein neues Leben
hinter ihm her, aber im schwimmenden Morgenlicht gingen alle Schüsse weit daneben. Er erreichte die Straße und verschwand in Richtung Lübeck.
»Jetzt müssen wir Opa heraushauen«, sagte Paskuleit drei Stunden später. Auch Pfarrer Heydicke war gekommen – Baum hatte ihn gleich aus dem Lager mitgebracht. »Herr Pfarrer, Sie sind jetzt der einzige, der zu ihm kann.«
»Ich werde noch heute mit ihm sprechen«, sagte Heydicke. »Aber es ist eine verdammte Situation: Jetzt habt ihr Kleinen die großen Sieger gegen euch –«
9
Die Situation war wirklich sehr gefährlich, wenn man sie von Opa Jochen aus betrachtete … Pfarrer Heydicke, der ihn ganz kurz sprechen durfte, berichtete, daß britische Gerichtsoffiziere ihn Tag und Nacht verhörten und an eine organisierte Sabotageaktion des nationalistischen ›Wehrwolfes‹ glaubten. Joachim Kurowski begegnete diesem gefährlichen Verdacht, nach dessen Beweis die Todesstrafe fällig war, mit einer schauspielerischen Glanzleistung: Er verlor sein Gedächtnis. Da man keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden hatte, ebensowenig wie bei Franz Busko, erinnerte er sich plötzlich nicht mehr seines Namens, stierte dümmlich in die Gegend, grinste die englischen Offiziere an und sagte nach fünf Tagen: »Schentlemänner, ich bin ein Findelkind. Wenn ihr herausbekommt, wer ich bin, würd mich das sehr freuen –«
Franz Busko schwieg ebenfalls. Bei ihm hatte der harmlose Fleischschuß in den Oberschenkel ebenfalls eine Blutleere im Hirn erzeugt. Wenn ihn jemand ansprach oder gar verhörte, zuckte er so nervös mit den Augen, daß die britischen Offiziere schnell wieder aus dem Krankenzimmer gingen.
»Trotzdem müssen wir Opa und Franz herauspauken!« sagte Paskuleit nach zwei Wochen. »Die kriegen es fertig und hängen dem Opa alles an, was noch unaufgeklärt ist.«
»Und unsere vierundneunzig Reifen sind hops!« sagte Felix Baum. »Das mit dem ›Wehrwolf‹ – das müssen sie erst beweisen.«
Schon im Dezember fand die Gerichtsverhandlung statt … eine harmlose Verhandlung vor einem britischen Militärgericht wegen Plünderung von Beuteware. Busko humpelte in das Zimmer, Opa Jochen saß starr und schweigsam in einem alten Korbsessel. Der einzige Deutsche, der der Verhandlung zuschauen durfte, war Pfarrer Heydicke. Von ihm wußte man später, was geschehen war.
Die Verhandlung war kurz. Ein paar Fragen, ebenso wenig Antworten. Man bemühte sich nicht mehr, die Namen der beiden Angeklagten festzustellen; in den Trümmerbergen Deutschlands liefen so viele Menschen ohne Namen herum, daß es auf zwei gar nicht mehr ankam. Es war auch nicht wichtig – man steckte ja keine Namen in die Zellen, sondern Körper. Und so verurteilte das britische Militärgericht die Körper eines vielleicht siebzig Jahre alten Mannes und eines ungefähr Ende der Zwanzig stehenden Mannes zu einem Jahr Gefängnis wegen Diebstahls. Opa Jochen nahm das Urteil schweigend an; Franz Busko sagte: »Und wie verrechnen wir meinen zerschossenen Hintern?!« Er zeigte damit zum erstenmal eine Begabung zum Ausgleich, die ihn auf seinem weiteren Lebensweg begleiten sollte.
Kurowski und Busko bezogen eine Zelle im Lübecker Gefängnis. Eine große Gemeinschaftszelle, in der bereits vierzehn Verurteilte hockten und die Neuen mit Hallo und Gesang begrüßten. Damals hinter Gittern zu sitzen, schien eine Auszeichnung zu sein, wie Monate vorher das Eiserne Kreuz. Es stellte sich heraus, daß alle vierzehn Mitinsassen wegen fast gleicher Delikte bestraft worden waren und jeden Neuzugang als Vergrößerung einer Familie ansahen.
Opa Jochen übernahm schon am dritten Tag das Kommando in der Zelle. Zunächst brüllte er so gewaltig, daß zwei Wärter herbeistürzten und die Tür aufrissen, voll Angst, jemand würde wahnsinnig. »Was is das, he?« schrie Kurowski. »Nur zwei Eimer für sechzehn Mann zum Scheißen?! Jungchen, wir lackieren euch die Wände, wenn hier nicht bald mehr Eimer erscheinen!«
So ging das eine Woche lang. Wenn aus Zelle 23 Opa Jochens Gebrüll ertönte, zogen die Wärter die Köpfe in die Schultern und versuchten, sich taub zu stellen. Plötzlich hörte der wilde Riese aus Ostpreußen auf, – dafür hämmerten dreißig Fäuste gegen die Tür und die Wände und schrien fünfzehn Kehlen im Chor: »Einen Arzt! Einen Arzt! Sanitääääter!«
Ganz still, ohne einen Laut war Kurowski auf seiner Pritsche zusammengebrochen. Busko begann zu weinen wie ein Kind, rüttelte ihn, hob die Augenlider
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