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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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fragte er und schaute sich um. »Sie sind in den Wäldern«, sagte die Frau und schritt durch den Schnee auf ein Haus zu. Sie stiegen eine Treppe empor, die an der Längsseite hinaufführte; von der Dachrinne hingen meterlange Eiszapfen herab, und die Türe öffnete sich nur schwer. »Gib mir die Hand«, forderte ihn die Frau auf, die er im Dunkeln der Türe nicht mehr erkennen konnte. Sie führte ihn in das Innere des Hauses, durch Gänge und über neue Treppen. Sie gingen in vollkommener Finsternis, nicht einmal die Umrisse von Fenstern erblickte er, es war ihm, als wäre er ins Herz aller Dinge gedrungen.
    Das Haus mußte alt sein, denn das Holz, über das er schritt, gab manchmal seinem Fuß nach. Eine Türe fiel hinter ihm ins Schloß. Die Frau ließ seine Hand los, und er stand allein. Er hörte ihre Schritte. Dann stand auch sie still. Ein Streichholz flammte auf, sie zündete eine Kerze an. Sie befanden sich in 51

    einem kleinen Raum. Die Fenster waren mit dicken Brettern vernagelt. In der Mitte des Zimmers war ein großer, roher Tisch, auf dem die Kerze stand. Vor dem Tisch war ein Stuhl und an der Wand ein Bett, sonst war nichts in diesem Zimmer, kein Spiegel, kein Bild, kein Schrank, nur altes Holz, wohin er blickte, nackt und ungehobelt, mit Fasern, die wie Adern über die Flächen liefen, sich mit seinem und ihrem Schatten vermi-schend.
    »Das ist mein Todeszimmer«, dachte er, »ich wußte, daß es so aussieht«, und blickte nach der Frau.
    »Ich will mit ihr sterben«, dachte er wieder, »es hat keinen Sinn, allein zu gehen.« Dann lachte er.
    »Warum lachst du?« fragte die Frau.
    »Ich lache, weil alles so einfach ist«, antwortete er und schwieg. Er wußte nun, was er sein ganzes Leben lang getan hatte, warum er in das einsame Dorf an der Grenze gekommen war, in dieses Land voll Schnee und Wälder, alles verlassend, was er besaß, seine Stellung, sein Ansehen, sein Geld, warum er immer wieder den Tod aufgeschoben: Er hatte den Menschen gesucht, mit dem er sterben wollte.
    Als ihre Atemzüge dann ruhiger wurden, und da sich ihr Leib, ermattet, von dem seinen löste, hatte er, wie sie jäh in den Schlaf sinkend, einen Traum. Er befand sich auf einer Treppe, die in die Nacht hinab führte. Die Treppe war breit, und er sah kein Geländer und nichts, das sie begrenzt hätte, sie schien sich, eine geneigte Fläche, nach allen Seiten ins Unendliche auszudehnen. Die Stufen waren aus Granit gefügt, der naß war. Auf den kleinen ebenen Plattformen, welche die Treppe unterbrachen, hatten sich Pfützen angesammelt. Die Nacht lag ohne Helligkeit über den Steinen, so daß er das Gefühl hatte, sich in tiefer Dunkelheit zu bewegen. Doch konnte er die Finsternis etwa fünfzig Stufen nach oben und nach unten durchdringen, als hätte er Augen, die ohne Lichter zu sehen vermochten, was ihn beunruhigte. Über die Treppe 52

    wälzten sich Menschen hinab, unter ihm, auf gleicher Höhe und über ihm, in ungeheurer Zahl. Er war in ihnen wie in einem Strom, eine Welle unter Wellen, und er wußte, daß er seit Anbeginn der Zeit ein Teil dieses Stromes war und daß seine Bahn nichts anderes sein konnte als ein einziger Abstieg in die Tiefe vor ihm. Er stieg hinab, die Stufen hinunter und über kleine Plätze und immer weiter hinab, an Laternen vorbei, die ohne Schein schräg in das Leere ragten. Mit ihm zogen Weiber hinab, ausgebrannt von der Qual der Geburten, die Haare wirr in langen Strähnen über den mageren Leibern.
    Kinder schrien hart und seltsam. Männer waren neben ihm, die unverständliche Worte sprachen und deren Arme immer die gleichen, kreisenden Bewegungen wie Windflügel machten. Er kam an Menschen vorbei, die mit gefalteten Händen der Tiefe zugewandt auf den Stufen kauerten, um dann laut schreiend aufzuspringen.
    Er schritt ohne Schrecken hinunter als einer, der den vertrau-ten Weg der Gewohnheit geht, doch machte ihn mit der wachsenden Zeit eine Veränderung der Tiefe unsicher. Er bemerkte in der unermeßlichen Verlorenheit des Abgrunds, in den sich die Treppe hinuntersenkte, einen fernen Schein, der beim Hinabsteigen an Leuchtkraft zunahm, doch wurde er der Menge noch nicht bewußt; unbeirrbar, Woge um Woge, wälzte sie sich ihm entgegen. Nur hin und wieder ahnte er in einzelnen Gesichtern eine flackernde Angst. So stieg er hinab auf die wachsende Helligkeit zu, wie durch Jahrhunderte hindurch, gebannt nach dem starrend, was ihm der Abgrund langsam enthüllte. Mit dem steigenden Licht, das von unten

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