Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
die Laterne, an die er sich lehnte, daß er die Zeitung faltete, die er scheinbar gelesen, entschlossen, die Verfolgung wieder aufzunehmen, mich manchmal umkreisend, um dann, wenn ich unvermutet stehen blieb, ein neues Versteck aufzusuchen. Auch bin ich oft an derselben Stelle Stunde um Stunde bewegungslos verharrt, oder ich bin den Weg zurückgegangen, um ihn zu treffen. Dann begann ich, wenn auch Wochen später, an die unbestimmte Furcht ge-wöhnt, die er mir einflößte, Fallen zu stellen; das Wild wurde nun selbst zum Jäger. Doch war er geschickter als ich und entkam immer wieder meiner List, bis mir in einer Nacht der Zufall die Möglichkeit gab, ihn zu stellen. Ich war die Altstadt hinuntergeeilt. Nur wenige Lichter brannten. Die Sterne 44

    leuchteten in einem schrecklichen Feuer, obgleich der Morgen nicht fern war. Ich war aus den Lauben getreten und hatte eine Straßenkreuzung überquert, als ich im Gehen innehielt, durch den Nebel verwirrt, der unmittelbar vor mir aufragte, eine unbestimmte, dichte Wand aus Glas, in der die Sterne flak-kernd versanken. In diesem Augenblick des Verweilens hörte ich zum ersten Mal seine Schritte hinter mir. Sie waren wie die meinen und mit einer solchen Kunst angeglichen, daß ich sie vom Widerhall der meinen nicht mehr hätte unterscheiden können. Sie waren so nah, daß ich im Geiste seine Gestalt aus dem Laubenbogen auf die hellere Straße treten sah. Da schrak der Fremde zurück. Er erblickte meine Silhouette, die sich vom Nebel abhob. Er stand mir unschlüssig im Laubenbogen gegenüber, doch war er im Schatten nicht sichtbar. Als ich mich langsam gegen ihn bewegte, wandte er sich jäh, worauf ich schnell auf den Bogen zuschritt. Ich hoffte, den Unbekannten zu erblicken, wenn er aus dem Dunkel in das Licht der Laterne treten würde, die weiter oben brannte. Er wich aber in eine kleine Gasse zurück, die an einer Türe endete, so daß er sich durch seine Flucht in meine Macht begab. Ich hörte ihn an die Türe prallen und an der Falle rütteln, während ich vor der Mündung des Gäßchens stehen blieb. Er atmete schwer und schnell. »Wer sind Sie?« fragte ich. Er gab keine Antwort.
    »Warum verfolgen Sie mich?« fragte ich wieder. Er schwieg.
    Wir standen da und der Morgen kam bei sinkendem Nebel draußen schon herauf. Langsam erkannte ich in der Finsternis der Gasse eine dunkle Gestalt, beide Arme wie gekreuzigt an der Türe. Es war mir jedoch unmöglich, die Gasse zu betreten.
    Zwischen mir und dem Menschen, der sich im Anblick des Ungewissen Morgens mit dem Rücken gegen die Türe preßte, gab es einen Abgrund, den zu überbrücken ich nicht wagte, weil wir uns nicht als Brüder hätten treffen können, sondern so wie der Mörder sein Opfer trifft. Da ließ ich von ihm und ging, ohne mich weiter um ihn zu kümmern.

    45

    Wenn ich nun die entscheidende Begebenheit seines Lebens wiederzugeben versuche, kann ich mich nur auf ihn berufen, doch habe ich mich damals bemüht, vieles aus der Betonung der Worte und den Bewegungen seiner Hände zu lesen, was er in jener Sommernacht verschwieg, in der sich mir sein Geschick enthüllte. Er trat unter den dichten Bäumen an meinen Tisch, wo die Lichter der Stadt und der großen Brücke durch die Stämme brachen, und wie ich sein Gesicht sah, wußte ich, daß ich in die Augen des Mannes starrte, der mich verfolgte.
    »Ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig, mein Herr«, begann er, indem er sich setzte, »um so mehr, als ich nicht antwortete, wie Sie mich ansprachen.«
    Er bestellte einen Pernod und leerte ihn in einem Zug: »Ich habe Sie verfolgt«, fuhr er fort, »und mehr als dies: ich habe mich mit jeder Stunde Ihres Lebens befaßt, ich habe Ihre Spuren studiert.«
    »Meine Spuren?« antwortete ich verwirrt.
    »Jedermann läßt Spuren zurück. Wir sind Wild, das gejagt und einmal erlegt wird. Ich studierte nicht nur Sie, nicht nur die Art, wie Sie wohnen, was Sie essen, was Sie lesen, wie Sie Ihren Beruf ausüben, ich beobachtete auch Ihre Freunde.«
    »Was wollen Sie?« fragte ich.
    »Ich will Ihnen mein Leben erzählen«, antwortete er.
    »Dazu haben Sie mich verfolgt?«
    »Natürlich«, lachte er. »Ich muß zu dem Vertrauen haben, dem ich mein Leben erzähle. Ich muß ihn kennen, wie mich selbst. Kommen Sie!« Wir standen auf und er sprach weiter.
    Seine Art zu reden klang seltsam. Er sprach, als hätte er sich fortgeworfen, gleichgültig, manchmal unter Gelächter, doch erschütterte er durch die Größe seiner Verzweiflung.

Weitere Kostenlose Bücher