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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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hatten gerade Stämme und unter dem Schnee verbarg sich weißes Moos. Durch die Stämme schimmerte ein Fels, den er bestieg.
    Zu seinen Füßen breitete sich eine Lichtung aus, eingehüllt in die Verlorenheit des Winterwalds. Manchmal schritten Rehe leicht und aufmerksam über die Fläche oder ein Raubvogel schwebte nach den hohen Tannen und schnell glitt der Schatten über den Schnee, während der Wind den Schrei eines Tieres aus dem Walde herüberwehte. Einmal jedoch kurz vor der Dämmerung, brach ein Mann aus dem Holz und eilte über die Lichtung, die ihn mit weißer Helle umgab. Ein Schuß durchschnitt die Stille. Der Mann breitete die Hände aus und fiel in den Schnee, wie von einem Wirbel ergriffen. Er lag dann als eine dunkle, unförmige Masse in der Mitte des Feldes, die Hände im Schnee verwühlt, und aus ihm quoll es hervor, schwarz zuerst, indem es sich auf der reinen Fläche verbreitete, zuletzt aber von einem leuchtenden Rot, und er wußte nun, daß dort, wo der Unglückliche lag, mitten durch dessen Leib die Grenze verlief, durch den blutigen Kreis sichtbar geworden, der den Toten umgab.

    In der folgenden Nacht glaubte er dann, der Stunde seines Todes nahe zu sein. Er brach auf, doch war es Tag, als er zur Lichtung vorgedrungen war. An den Zweigen hing Eis, und wie er sich durch die letzten Büsche zwängte, sah er den Toten von weitem liegen. Der Schnee umfing seine Füße, wie er das Feld betrat. Hinter den Tannen war unsichtbar für ihn die Sonne aufgegangen, denn der Himmel glänzte in gleißendem Licht. Die Kälte durchdrang den Mantel und seine Kleider, und die Haut schmerzte. Er ging an den Toten heran und blieb stehen. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee.

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    Das Blut war nicht mehr zu sehen, auch hatte sich über die unbewegliche Gestalt eine feine, gläserne Schicht gezogen. Er stand mit gesenktem Antlitz vor dem Toten und erwartete aus den dunklen Stämmen die Kugel. Er stand den ganzen Tag vor dem Leichnam. Nässe durchdrang ihn. Für Augenblicke zeigte sich die Sonne groß und rot über der Lichtung, doch sank sie wieder hinter die Tannen, brach dann aufs neue hervor, aufs neue versinkend, immer wieder. Stundenlang stand er im wechselnden Licht, unbeweglich, den Tod gierig erwartend, ein Freund, der nach einem Freund Ausschau hält. Dann war es ihm, als näherten sich Schritte über den Schnee. Als er die Augen hob, stand jenseits der Grenze eine Frau, ihm auf der andern Seite des Toten gegenüber.
    »Wer bist du?« fragte er.
    »Ich bin sein Weib«, antwortete sie, lachte und berührte mit dem Fuß den Toten. Sie standen da und schwiegen.
    »Bist du nicht traurig?« fragte er endlich.
    »Nein«, antwortete sie. Darauf beugte sie sich und nahm dem Toten einen Ring von seiner geballten Hand, die sie mühsam öffnete. »Den braucht er nicht mehr«, sagte sie dabei.
    »Woher kommst du?« fragte er nach einer Weile.
    »Vom Dorf«, antwortete sie und zeigte hinter sich nach der Richtung, von der er wußte, daß dort jenseits der Grenze ein Dorf lag. »Und was machst du hier?« Er sagte:
    »Ich will mich töten.«
    »Wozu?« fragte sie.
    »Weil ich den Tod liebe.«
    »Du bist ein Henker?« lachte sie.
    »Du hast recht«, antwortete er, »ich bin ein Henker.« Sie sahen einander an, zwei weiße Gesichter in den wachsenden Schatten.
    »Die Sonne geht unter«, sagte sie, »willst du mit mir kommen?«
    »Ich komme mit dir«, antwortete er und stieg über den To-50

    ten. Sie ging wenige Schritte vor ihm. Der Wald jenseits der Grenze war lichter, die Stämme jedoch noch mächtiger und das Wild zahlreicher. Einmal fiel ein Schuß dicht vor ihm, doch änderte sie ihren ruhigen Gang nicht, und erst später merkte er, daß seine Stirne blutete. Als sie den Wald verlassen hatten, wurden unter ihnen die Lichter und die Umrisse eines Dorfes sichtbar; zwischen Tag und Nacht schritten sie dahin.
    Das Land lag in weiten Wellen zu ihren Füßen, und zwei Raben begleiteten sie mit beinernen Schnäbeln durch die Dämmerung. »Immer sind Vögel hier«, dachte er, »immer umflattern sie mich, die Freunde meiner Seele, die Totenvö-
    gel.«
    Hunde gaben an, und ein Pferd wieherte. Sie erreichten das fremde Dorf. Die Häuser drängten sich um eine Kirche, und auf dem Platz stand alt und zerfallen ein Brunnen in der beginnenden Nacht. Er war mit Eis zugedeckt, so daß die Fläche einem Spiegel glich, doch sah er sein Gesicht nicht, als er sich über die klare Fläche neigte.
    »Ist niemand hier?«

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