Aus den Papieren eines Wärters
einen hilflosen Verrückten. Geduckt starrten wir nach der lächerlichen Gestalt. Die Fahne ragte regungslos entbreitet in die Nacht, und die Zeichen auf ihr waren im grellen Mond deutlich zu sehen. Wir erkannten, daß wir handeln mußten, 88
und wußten, daß wir ohnmächtig waren. Da schritt der alte Kohlenträger, noch immer betrunken, auf den Irren zu. Der Alte ging langsam über die steinerne Brücke, sein riesenhafter Leib leuchtete wie Aussatz durch die Löcher seines zerfransten Kleides und sein langer, weißer Bart berührte in wilden Strähnen den gleißenden Boden; wie gewaltige Klöppel schwangen die dicken Arme; die mächtigen Schultern waren nach vorne geneigt: lauernd bewegte er sich gegen den Irren, der unbeweglich und blöde lächelnd mit seiner Fahne in der Mitte der Steinbrücke stand. Wie nun der Kohlenträger den Irren erreichte, wagten wir nicht mehr zu atmen. Der Verrückte blieb immer noch bewegungslos. Der Alte ergriff die Fahnenstange, die der Irre hilflos und treuherzig fahren ließ, auch vom Vorgehen des Kohlenträgers überrascht, wie wir deutlich sehen konnten, der nun die Fahne in hohem, lautlosem Bogen über das steinerne Geländer in den Abgrund warf, so daß es schien, sie entschwebe. Dies löste unsere Erstarrung, unsere Augen flammten von neuem auf, ein wilde Freude über die Niederlage des Irren stieg in uns auf. Schon wollte der Kohlenträger in einen Triumphtanz ausbrechen (die affenartigen Arme hatte er schon erhoben), schon wollten wir über die Brücke stürzen, entschlossen, den Irren niederzustampfen, schon umklammerten unsere Hände die Griffe der Messer und Beile, schon öffneten sich unsere Münder, in wilde Flüche auszubre-chen, als der Irre, der nun begriffen hatte, daß seine Fahne verloren war, zu schreien begann. Es war ein ungeheurer Schrei, der ohne Ende und ohne Unterbrechung war und aus der weiten offenen Höhle seines Mundes kam. Der Schrei umklammerte alles, und die Stadt schien in ihm mitzuschreien, einsgeworden mit diesem Schrei, der die Sprache jener Dinge war, die uns stumm umgeben und uns schweigend vernichten.
Wir wichen entsetzt zurück, um so mehr, da der Schrei nicht schwächer wurde, sondern in gleichbleibendem schrillem Strome aus diesem offenen Munde wie aus einer Wunde quoll, 89
so grauenhaft, daß wir den Zusammenlauf der Wärter jeden Augenblick erwarteten. Doch blieb die Stadt tot und leer, wie unbewohnt, und nur der Schrei war da, dieser unbegreifliche, gleichbleibende Schrei, vor dem die geduckte, zerlumpte Masse immer mehr zurückwich, nüchtern und bleich, um dann, wie der Schrei nicht abnahm, von einer Panik ergriffen mit einem Mal davonzurennen, aufheulend in gigantischer Angst, Weiber und Greise zertrampelnd. Ich stand allein auf dem Platz, der mit Toten übersät war. Vor dem schreienden Irren stand immer noch der riesige Kohlenträger auf der Brücke und versuchte fieberhaft, den Schrei zu unterdrücken. Er preßte ihm die Hände auf den Mund, doch unvermindert quoll ihm der Schrei zwischen den Fingern hindurch, und als der Alte verzweifelt seine Faust in den heulenden Schlund des Irren stieß, war der Schrei immer noch da, unvermindert, doch nun losgelöst vom Verrückten, überall, im Geländer der Brücke, in den Giebeln der Häuser, in den Chimären der Kathedrale, in der gleißenden Kugel des Monds, und dennoch war es der Schrei des Irren und kein anderer. Da ergriff der Kohlenträger den Irren, und wie sich die Leiber wild aufbäumten, und wie der Schrei immer noch zu hören war, rollten sie, eingewickelt in den weißen Bart des Alten, über das Steingeländer auf mich zu, doch erreichten sie mich nicht, sondern fielen seitwärts in die abenteuerliche Tiefe des Abgrunds, aus welchem immer noch der Schrei hallte.
Das Haus, in welchem ich mich melden konnte, wenn ich in den Dienst der Stadt treten wollte, befand sich nicht weit von meinem Zimmer in einer Gegend, die unübersichtlich war, obgleich sie äußerst regelmäßig geplant worden sein mußte.
Doch hatte der Umstand die Übersicht wieder zerstört, daß man sie mit kleinen Beamtenhäuschen bebaute. Es mußten untergeordnete Angehörige der Verwaltung dort wohnen, die sich nicht in der Stadt selbst ansiedeln durften. Es waren 90
niedere, rote Backsteinbauten, die alle einander gleichsahen und auch die gleichen, kleinen Gärten besaßen. Das Haus stand an einer der schnurgeraden Straßen, an einer Omnibushaltestelle, wie ich mich genau erinnere. Es war ebenfalls ein
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