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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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lastend: Den Fluß aber sahen wir nicht, da ihn ein milchiger Nebel bedeckte, so daß die Stadt wie auf Wolken zu schweben schien. Wir waren erstarrt und klammerten die Hände ineinander, doch der Alte begann über die Brücke zu gehen, worauf wir ihm folgten, von einer wilden Lust erfaßt, alles zu wagen. Die Brücke war so schmal, daß sich viele an das Geländer klammerten, um an ihm hinüberzuklettern, auch gab es solche, die in die Seile der Hängebrücke stiegen und den Übergang versuchten, weil sich alles fürchterlich staute, so daß die Menschen wie Trauben hingen, doch hatte niemand Furcht, obschon die Brücke 86

    heftig hin und her schwankte. Auch bog sie sich unter dem ungewohnten Gewicht nahe dem Flusse zu, seinen nächtlichen Wellen entgegen, eingedrückt von der Last des elenden Haufens, der über sie stürmte, worauf wir für Augenblicke im Nebel versanken und im Leeren zu schweben schienen, weil nun die Stadt nicht mehr zu sehen war. Endlich jedoch, wie wir dem Flusse so nahe gekommen waren, daß unsere Füße im Wasser standen und viele von den Wellen fortgerissen wurden, jämmerlich schreiend, hob sich, erleichtert, die Brücke in wildem Schwanken steil in die Höhe, und senkrecht über uns sahen wir die Stadt wieder, nun nahe, die uns mit Mauern und Türmen entgegendrohte, als wolle sie sich auf uns hinabstürzen, so daß wir uns unwillkürlich duckten. Doch wie wir nun immer mehr den Fels erkletterten, auf dem sie gebaut war, beruhigte sich die Brücke, ihr Schwanken verebbte, und ungehindert konnte sie nun der Rest des Haufens verlassen.
    Wir rückten gegen die Stadt vor und begannen durch ein halb zerfallenes Mauertor einzudringen, erst vorsichtig, dann entschlossener, obgleich es uns eigentlich noch nicht klar war, was wir wollten, wie denn dieser nächtliche Zug einer erbärmlichen, von Schmutz starrenden, zerlumpten und betrunkenen Menschenmasse planlos begonnen hatte und zuerst weniger einem Aufruhr glich als vielmehr dem hilflosen Ausdruck einer dumpfen Verzweiflung. Jetzt aber, da wir uns durch eine Gasse zwängten, die ins Innere der Stadt führte, wurden wir uns unserer Handlung bewußt, und immer mehr kam der Wille zur offenen Rebellion hoch. Die Häuser waren verwittert wie uralte Bäume und umgaben uns mit leeren Fenstern. Der Platz war aufgeworfen, auf dem wir uns zusammenrotteten, und in den tiefen Gräben lagen Röhren und Kabel frei, auch fiel der mächtige Schatten eines Turmes auf uns, hinter dem sich der Mond verbarg. Wir drangen in dichtem Keil aufs neue in eine Gasse. Seit wir die Stadt erreicht hatten, war kein Laut mehr gefallen. Unhörbar rückten wir über die Pflastersteine vor und 87

    bald sahen wir im vollen Lichte des Monds die Kathedrale von weitem über den Dächern, so daß wir uns nach ihr richten konnten. Nachdem wir von einem niedrigen Torbogen aufgenommen worden waren, ergossen wir uns so plötzlich in die Hauptstraße, die halb im Lichte des Mondes lag, der überaus grell hinter den Giebeln hervortrat, daß wir erschraken, doch faßten wir uns von neuem. Wir verfolgten zusammengedrängt die Straße aufwärts, während in unseren Blicken die wilde Begeisterung der Rebellen glomm. Der Strom der Menschen wälzte sich unaufhaltsam durch die Gasse, bald im Schatten der Häuser, die mit Giebeln und Lauben die Schreitenden gefangennahm, und bald im Silber der Nacht, welches wie Schnee über alles gebreitet war. Wir erreichten den Platz, der in der Mitte der Stadt an ihrem höchsten Punkte lag, wo sich der Fels spaltete und in einer senkrechten Schlucht steil nach unten fiel, in deren Tiefe, nur selten sichtbar, ein Nebenarm des Flusses schäumte. Wir waren entschlossen, unser Eindringen auszunutzen und die Verwaltung zu stürmen und auch vor einem Blutbad nicht zurückzuschrecken. Die Männer rissen Messer aus den Kleidern, einige Flinten und Beile wurden sichtbar. Wir schritten zusammengeballt über den Platz auf die Steinbrücke zu, die sich über den Abgrund spannte, auf deren Mitte, auf der Höhe ihres Bogens, wie wir nun mit einem Mal bemerkten, der Irre mit seinem runden Hut und seiner Fahne stand. Wir standen still und verharrten regungslos, eine zu-sammengeballte Menge, halb in das Licht eines gläsernen Vollmonds getaucht. Es war nicht der Anblick des Irren, der uns lähmte. Es war die Erkenntnis, die uns mit Grauen erfüllte, daß die Stadt uns so sehr verachtete, und daß sie ihres Sieges so sicher war, daß sie uns nichts anderes entgegensetzte als

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