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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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bestand mehr der theoretischen Möglichkeit nach als der Wirklichkeit.
    Es war daher besser, den Versuch zu wagen, unbemerkt zur Türe zu gelangen. (Sie konnte ja vielleicht jetzt verschlossen 99

    sein.) Erwies sie sich als unverschlossen – und es bestand kein Grund, das Gegenteil anzunehmen –, konnte ich immer noch zu den fürchterlichen drei alten Weibern hinaufsteigen als der einzigen Instanz der Verwaltung, die in Frage kam – andere Beamte hatte ich ja nie kennengelernt, weder hier noch je zuvor. Mein Gewand gab mir Hoffnung, das Unternehmen durchführen zu können. Ich erinnerte mich, daß mein Kleid Zeichnungen aufwies, die den Figuren an den Wänden des Ganges glichen. So war die Möglichkeit gegeben, mich unbemerkt gegen den Ausgang zu bewegen, indem ich mich nahe der Wand hielt. Ich wußte zwar, daß meinem Bestreben jene Nische ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellen konnte, die ich zwischen mir und der Glastüre annahm, doch war es gerade ein leiser Zweifel an der Richtigkeit meiner Berechnung, der mich bestimmte, dieses Wagnis zu unternehmen. Ich begann mich mit Bewegungen aus der Nische zu schieben, die unendlich langsam waren und Stunden in Anspruch nahmen. Dann stand ich im Gang, indem ich mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern mit dem Rücken an die Mauer lehnte. Doch überraschte mich eine Eigenschaft der Wand, die ich nicht vermutet hatte. Die Wand verlief nicht gerade, wie ich angenommen hatte, sondern bog sich zu eigenartigen Kurven und Wölbungen, die meinen Weg verlängerten. Auch bestand sie aus einem Material, das ich zuerst nicht erkannte, es erwies sich aber als eine Art körniges Glas. Die Figuren auf der Wand waren grauenvolle Dämonen und abstrakte Ornamente in willkürlicher Reihenfolge, so daß ich mich wie in einem Dickicht bewegte, doch war ich sicher, daß ich nicht gesehen werden konnte, denn es kostete mich Mühe, meinen Leib zu verfolgen, so sehr war er durch das Kleid mit der Mauer verbunden. Auch mein Gesicht und meine Hände mußten unsichtbar sein, denn überall befanden sich große helle Flecken und durch das konfuse Licht wurde jeder Körper in eine Fläche verwandelt, weil der Schatten fehlte. Ich 100

    bewegte mich langsam gegen die Glastüre und mußte mich ungefähr halbwegs zwischen meinem Ausgangspunkt und der Stelle befinden, wo ich die nächste Nische vermutete, als ich mit der linken gespreizten Hand, die ich weit von mir mit der Fläche nach innen eng an die Mauer gepreßt hielt, an einen Gegenstand stieß. Diese Berührung war fast unmerklich, ich glaubte aber eine leise Erschütterung des Gegenstandes gefühlt zu haben, der sich darauf ruhig verhielt. Doch war es mir vorgekommen, als hätte er gegen die Spitzen meiner Finger einen leisen Druck ausgeübt. Ich wandte den Blick gegen die Glastüre, die ich nicht sehen konnte, weil ich mich nahe der Tiefe einer großen Einbuchtung befand. Auch waren in ihr Götzen mit Tierköpfen abgebildet, die mich mit grünen Augen anglotzten. Ich vermochte im Gewirr der Formen kaum meine Hand zu unterscheiden, die mir als ein unwirkliches Gebilde vorkam, wie ich sie erblickte, so sehr war das Bewußtsein verschwunden, daß sie mir zugehörte, und es war, als hätte ich jede Macht über sie verloren. Ich schaute angestrengt nach ihr, indem ich das Gesicht an die Wand preßte, um zu erkennen, was ich berührt hatte. Die Stelle der Mauer, auf der meine Hand lag, war dicht mit Linien überzogen, auch befand sich nicht weit von ihr ein Scheusal mit unzähligen Armen, so daß es unmöglich schien, einen Gegenstand von der Wand zu unterscheiden, der sich an ihr befunden haben könnte. Es ergriff mich daher ein jähes Entsetzen, als ich eine fremde Hand erblickte, die an die meine grenzte. Sie konnte nur einem Menschen angehören, der nicht weit von mir an der Mauer stehen mußte. Es war eine kleine und fleischige Männerhand mit zarten Fingern und überaus weißer Farbe, an denen die Nägel lang und schmal waren und über meine Nägel heraus-standen, da sie die meine mit den Fingerspitzen berührte, so daß beide Hände ineinander verwachsen schienen. Ich verhielt mich unbeweglich und versuchte mit größter Vorsicht und Geduld der fremden Hand zu folgen, die losgelöst von jedem 101

    Leibe an der Mauer klebte. Auch stimmte mich nachdenklich, daß die Hand mit der Fläche gegen die Mauer gekehrt war.
    Dies erweckte in mir den Verdacht, der Fremde könnte in einer Stellung verharren, die der meinen ähnlich war.

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