Aus den Papieren eines Wärters
Daß ich dies nicht tat, daß ich nicht auf-sprang und auf und ab ging, pausenlos, sondern in meiner Nische blieb, war die Schuld eines Gedankens, der unabsicht-lich in mir aufgetaucht war und immer lästiger wurde, je weniger ich ihm glaubte, denn es war mir von allem Anfang an klar, daß mich nur eine ebenso unsinnige wie unbegründete Idee quälte: Ich erinnerte mich, daß ich von den Gefangenen nicht unterschieden werden konnte, weil unsere Kleider gleich waren (nach den Worten der drei Alten); doch nicht dies beunruhigte mich, sondern der Verdacht, der nun in mir aufstieg, daß ich ein Gefangener wie alle andern sei, ein Gedanke, der, so absurd er auch war, mir immer wieder kam und dem Mißtrauen entstammen mußte, welches mir die drei Weiber durch ihr schreckliches Aussehen natürlicherweise eingeflößt hatten: Ein um so unverzeihlicherer Verdacht, da in ihm der primitive Denkfehler enthalten war, der aus mangel-95
haften Gliedern auf Mängel des Ganzen schließt: Als läge der Sinn der Verwaltung darin, vollkommene Beamte zu besitzen.
Wohl mochte es sein, daß ich wie jene gekleidet war, die sich mit mir in diesem Gang befanden (die Alten konnten ja auch in ihrem Übermut, vom Tee und den Kuchen in gute Stimmung versetzt, nur einen Spaß gemacht haben), doch nur um fähig zu sein, meine Macht im Unsichtbaren und so ungeschmälert auszuüben, wie es die Alten angedeutet hatten. Die Gefangenen wußten, daß sich unter ihnen ein Wärter aufhielt, doch kannten sie ihn nicht, denn wer auch zu ihnen gebracht wurde, hatte das gleiche Kleid wie sie. Mein Irrtum war nur gewesen, anzunehmen, die Gefangenen wüßten, daß ich der Wärter sei, den sie fürchteten, da sie doch in mir nur einen möglichen Wärter sehen konnten und nicht mehr, was wiederum ihre Lage verschlimmerte. Ich war froh, mich nun nicht durch Aufstehen und Herumgehen als einziger Wärter unter so vielen Gefangenen verraten und mich der Chance beraubt zu haben, im Falle des Ausbruchsversuchs irgendeines Verbrechers oder Rebellen (zum Beispiel des Kohlenträgers) unverhofft, und dies unmittelbar vor dem Ausgang, eingreifen zu können.
Zwar war es möglich, daß es noch andere Wärter gab, und es waren Gründe vorhanden, solches anzunehmen. Aber diese stellten Vermutungen dar, Hypothesen, die nicht zu beweisen waren, und es mußte in einem höchsten Sinn töricht sein, über diese Probleme nachzudenken, denn die Tatsache, daß ich ein Wärter war, blieb eine Wahrheit, die nicht in Frage gestellt werden konnte. Wohl mochte meine Stellung unter den Wärtern nicht eine so hervorragende sein, wie ich zuerst angenommen hatte, sie konnte geradezu von einem untergeordneten Rang sein – ich war ja auch erst eingetreten –, aber dennoch war sie eine überaus wichtige, da in einer absoluten Ordnung alles bedeutend ist, so daß ich unerschrocken in die blaue Dämmerung schaute, die im Unendlichen versank. Manchmal kam es mir vor, als wären schwere Atemzüge vernehmbar, 96
dann aber, wie ich hinhorchte, blieb alles still. Ich erschrak jedoch heftig, als ich ein leises Geräusch hörte, welches von der inneren Wand meiner Nische stammte, von wo ich keine Gefahr befürchtet hatte. Als ich mich vorsichtig wandte, stieß ich an einen Teller, der Fleisch enthielt und auf irgendeine Weise in meine Nische gebracht worden war. Ich aß vorsichtig und lautlos, doch fiel ich darauf ermüdet in einen Halbschlaf, um dann hell wach zu werden, von einer jähen, unerklärlichen Angst befallen, die ihren Grund nur in der Ungewißheit meiner Stellung und Aufgabe in diesem Gefängnisraum haben konnte und mich immer wieder überfallen mußte, wenn es mir nicht gelang, Klarheit zu schaffen. Da die Verwaltung mir nicht entgegenkam – wie sollte sie, mit der Organisation der Stadt beschäftigt, auch Zeit dazu finden! – mußte ich mir selber helfen. Ich hoffte, von sicheren Anhaltspunkten aus allein durch mein Denken völlige Gewißheit über meine Lage erlangen zu können. Es fiel mir auf, daß ich nur die eine Seite des Ganges übersehen konnte. Ich begann zu überlegen, ob sich auch in meiner Wand Nischen befänden. Auch stellte sich die Frage nach der Anordnung jener Nischen, in der sich die Wärter befanden – falls ich mehrere Wärter annehmen mußte –
, doch war es am besten, zuerst die allgemeine Anordnung aller Nischen zu finden. Die mir gegenüber liegende Wand gab Aufschlüsse von größter Wichtigkeit. Die Nischen waren dort in immer gleichen Abständen
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