Aus den Papieren eines Wärters
eines Sonderlings, sondern daß ich hier nichts anderes als die Wirklichkeit der Stadt darstelle, ihre tatsächliche Realität und ihr tägliches Antlitz. Es wäre hier einzuwenden, daß mir zur Darstellung der Realität die Distanz und damit der Glaube fehle, denn es sei vor allem der Glaube, der uns befähige, die Wirklichkeit richtig zu sehen und zu beurteilen, nun sei ich ein Wärter, und gerade als solcher könne ich unmöglich mehr eine Distanz und einen Glauben haben. Diesen Einwand zu widerlegen, bin ich nicht in der Lage. Ich bin ohne Glauben, und ich bin ein Wärter und als solcher sicher den geringsten Angestellten der Stadt zugeteilt, aber dennoch ihr Angestellter und damit – ich schreibe dies nicht ohne Stolz, denn es ist das Besondere meiner Lage – im Verhältnis zu dem, was ich war, als ich die Stadt betrat, unendlich mehr. Damals war ich ein Fremder, und als Fremder war ich im Verhältnis zu ihr unendlich weniger als 105
ein Wärter. Dies ist meine Geschichte, wie ich in ein Verhältnis zur Stadt kam und wie ich Wärter wurde: wer eine Geschichte hat, besitzt auch Wirklichkeit, denn eine Geschichte kann sich nur vor einer Wirklichkeit abspielen. Die Geschichte der Stadt darzustellen, ist jedoch nicht meine Aufgabe, das ist mir als Wärter auch ganz unmöglich, denn für mich kann die Stadt nicht etwas historisch Gewordenes sein, sondern der Hintergrund, von dem sich mein Schicksal wie von einer flammenden Wand abhebt. Ich will damit natürlich nicht leugnen, daß es ungeheure geschichtliche Entwicklungen gewesen sind, die die Stadt ins Leben riefen und nach und nach ihre Gesetze geprägt haben, wie hinter dem Diamanten ja gleichsam die Entwicklung der Erde selbst steht, diese kaum zu ahnende Geschichte unermeßlicher Vorgänge. Wie sollten wir aber je Einblick in die Entwicklung der Stadt erlangen können, wenn uns der Einblick in ihre Ordnung verwehrt ist?
Wir sind zwar alle von ihr bestimmt und eingeordnet nach dem Grade unserer Fähigkeiten, ja unserer Laster, aber keinem von uns hat sich ihre Ordnung bis in die letzte Klarheit dargestellt, wie ein Abgrund, der nie ganz zu erhellen ist. Die jedoch, denen ihr Rang vielleicht ein größeres Wissen gibt, sind für uns unerreichbar, denn wir gehören der untersten Verwal-tungsstufe an. Doch kennen auch sie nur die Oberfläche und nicht das Zentrum der Schrecken, in welchem wir unsere Pflicht erfüllen, so daß wohl niemand Oben und Unten zugleich überblickt. Doch möchte ich hier nicht weitersprechen.
Ich bewege mich in Gebieten, die sich der Darstellung entzie-hen; wie ich denn die folgenden Zeilen nur zögernd und unter großen Schwierigkeiten niederschreibe, denn die Stadt ist nur Wirklichkeit und nichts anderes. So geschieht meine Geschichte denn nicht in einem symbolischen Raum des Geistes oder im unendlichen des Glaubens und der Liebe, der Hoffnung und der Gnade, sondern in dem wirklichen, und wer hätte mehr Wirklichkeit als die Hölle, wer mehr Gerechtigkeit, und wer ist 106
so ohne Gnade wie sie?
Wenn droben die langen Nächte heransteigen, in denen die Winde heulend über die Erde irren, sehe ich wieder die Stadt vor mir, wie an jenem Morgen, da ich sie zum ersten Male, in der Wintersonne ausgebreitet, am Fluß erblickte. Die Stadt schien von wunderbarer Schönheit, und in der Dämmerung durchbrach das Licht die Mauern wie warmes Gold, doch denke ich mit Grauen an sie zurück, denn ihr Glanz zerbrach, als ich mich näherte, und wie sie mich umfing, tauchte ich in ein Meer von Angst hinab. Auf ihr schienen giftige Gase zu liegen, welche die Keime des Lebens zersetzten und mich zwangen, mühsam nach Atem zu ringen. Dann gab es Stunden, in denen ich ahnte, daß die Stadt sich selber genügte und den Menschen mißachtete. Ihre Straßen waren nach festen Plänen gerade und gleichgerichtet oder durchschnitten von bestimmten Plätzen aus strahlenförmig die grauen Wüsteneien der Häuser. Die Gebäude waren alt und baufällig, manchmal an den Plätzen von öden, neueren Häusern abgelöst, doch wirkten gerade diese Riesenbauten am altertümlichsten. Die Paläste waren zerfallen und die Regierungsbauten verwahrlost und in Wohnblöcke umgewandelt, die Fenster der leeren Geschäfte zerschlagen. Noch standen einzelne Kathedralen, doch auch sie stürzten unaufhaltsam zusammen. Der Kranz der rauchenden Schlote und der langsam und sinnlos sich drehenden Riesen-krane war unübersehbar. Die Wolken standen unbeweglich über dem Gewirr von Mauern
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