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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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voneinander entfernt, und der Umstand, daß ich mich gegenüber einer Nische aufhielt, ließ darauf schließen, daß auch jene meiner Wand sich so verhalten mußten. Ich dachte mir deshalb die Nischen symmetrisch angeordnet, indem der unterirdische Gang die Achse darstellte.
    Dieser Schluß schien gewagt, doch ging es mir noch nicht um den Grundriß der gesamten Anlage – den zu entwerfen in diesem frühen Zeitpunkt eine haltlose Spekulation gewesen wäre –, sondern nur um die Beschaffenheit des Teils, der mir vor Augen lag; ich mußte darauf achten, in meinen Untersu-97

    chungen lückenlos vorzugehen. Zwar konnte ich mir nicht verhehlen, daß ich notgedrungen von gewissen Punkten ausgehen mußte, die nicht zu beweisen waren. So hinderte mich etwa nichts, die Nischen für unbewohnt zu halten, hatte ich ja ein Gegenüber oder irgendeinen anderen Menschen nie gesehen. Daß ich dies dennoch nicht tat, lag in einer Wahrheit, die ich fühlte: Ich wußte einfach, daß in allen Nischen Menschen kauerten. Wenn ich mir nun die Anordnung der Nischen symmetrisch dachte (mit dem Gang als Achse), so war damit die Wahrheit noch nicht ausgemacht, doch wiesen bestimmte Momente darauf hin, daß meine Folgerung wahrscheinlich war. Vor allem mußte es auffällig sein, daß, zwischen der Nische, die mir gegenüber lag, und der Glastüre, in der andern Wand des Ganges noch eine Nische war. Dieser kam sowohl für die Anordnung der Nischen als auch für die Verteilung der Wärter eine entscheidende Bedeutung zu. Es lag auf der Hand, daß von ihr aus der Ausgang schneller zu erreichen war, als dies von der meinen möglich sein konnte. In ihr nahm jemand mir gegenüber eine bessere Stellung ein als die Bewohner der anderen Nischen, die an mir vorbei mußten, wenn sie den Ausgang erreichen wollten. Es schien sich hier eine leise Benachteiligung meiner Stellung abzuzeichnen, die mich mißtrauisch machte, weil die Anlage der Nische so vollkommen war, daß ich darin eine bestimmte Absicht vermuten mußte. Diese Überlegung brachte mich auf den Verdacht, es könnte sich in dieser Nische ein Wärter aufhalten, was insofern nicht ohne Schwierigkeit war, als dieser Wärter – vom Plan des Ganzen aus gesehen – überflüssig gewesen wäre, wenn sich meine Nische der Glastüre am nächsten befunden hätte.
    Wenn ich dort einen Wärter annehmen mußte, wurde meine Stellung fragwürdig und erschien in einem gewissen Sinne unnötig. Dies wollte ich jedoch nicht annehmen, weil dies nicht nur den Worten der drei Alten widersprochen (die allerdings nicht recht vertrauenswürdig waren), sondern auch 98

    die Frage wieder aufgeworfen hätte, ob ich nicht selbst ein Gefangener sei und meine Stellung als Wärter nur eine Fiktion, mit der mich die Verwaltung täuschte. In diese Schwierigkeiten verstrickt, wurde mir mit einem Male die Anlage der vier Nischen zunächst der Glastüre verständlich: In der gegenüber-liegenden Wand befand sich der Wärter in der Nische nächst der Türe und ihm gegenüber, auf meiner Seite des Ganges und daher unsichtbar, mußte eine Nische sein, in der sich ein Gefangener aufhielt. Auf meiner Seite der Anlage war der Ort des Wärters durch meine Person gegeben, und mir gegenüber ein Gefangener (der mich unbeweglich belauerte), so daß in diesen vier Nischen Wärter und Gefangene sich zwar gegenü-
    bersaßen, aber so, daß sich auf jeder Seite der Wand je ein Wärter und ein Gefangener in ihren Nischen aufhielten.
    Natürlich war es auch möglich, daß sich in der mir unsichtbaren, nur gedachten Nische nächst dem Ausgang ein Wärter und nicht ein Gefangener befand und der Gefangene umgekehrt in der sichtbaren Nische kauerte, wie sich überhaupt verschiedene Kombinationen ergaben, die alle gleich zwingend waren.
    Auch kam ich immer wieder – wenn auch gegen meinen Willen – auf den Punkt zurück, der diese kühnen Systeme, mit denen ich die Wahrheit zu ergründen suchte, von der Frage abhängig machte, ob ich ein Wärter oder ein Gefangener sei.
    Ich hätte zwar ohne weiteres zur Glastüre (sie schien ja unverschlossen) und hinauf zu den drei Alten bei ihren Karten und Kuchen gehen können, doch war es natürlich so, daß sich ein solches Vorgehen, kaum hatte ich die Stellung eines Wärters erhalten – und es war schließlich eine nicht unbedeutende Vertrauensstellung –, nun wirklich nicht gut schickte. Die Frage, auf die es mir ankam, war ja auch mehr logischen Überlegungen entsprungen und damit überspitzt, sie

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