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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Ich richtete meinen Blick höher und erblickte nach langem Forschen, wo die Wand sich gegen außen wölbte, wie zufällig das Gesicht eines Mannes, der mir mit so großen Augen entgegenstarrte, als hätten sich unsere Blicke gleichzeitig getroffen. Es war ein schmales Antlitz und von einer Form, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, auf dem jede Linie und Falte der Haut deutlich sichtbar war. Die Lippen waren verzerrt, auch konnte ich zwischen ihnen kleine, spitze Zähne bemerken, die sich eng aneinander drängten, und ich entsinne mich eines beständigen, unsinnigen Dranges, sie zu zählen, wobei ich mich stets aufs neue verwirrte. Doch waren es dann die Augen, die mich wieder in Bann zogen, die in ihren Höhlen vor Entsetzen zu leuchten schienen. Darauf entschwand er meinem Blick, doch vermag ich nicht zu sagen, wer von uns sich fortbewegte, es mag sein, daß sich die Lage meiner Augen unmerklich verändert hatte, so daß sich der Fremde in den Linien der Wand verlor, vielleicht auch, daß er es war, der sich entfernte. Ich schob mich daher mit vorsichtigen Bewegungen, die Stunden dauerten, in meine Nische zurück, wo ich erst meine neue Lage zu überdenken vermochte.

    Daß der Mensch, den ich gesehen hatte, der Bewohner jener Nische gewesen war, die mir unsichtbar blieb, schien mir unzweifelhaft und erfüllte mich mit einem gewissen Stolz, da ich doch eine Wahrheit bestätigt fand, die allein durch Überlegung gefunden worden war (wenn auch der teuflische, doch unbegründete Verdacht mit einem Male in mir aufstieg, ich hätte nur mein Spiegelbild gesehen, da doch die Wände der Grotte aus Glas bestanden). Konnte ich deshalb mit einigem Recht annehmen, dieser Mann mit den vor Entsetzen weit 102

    offenen Augen und den spitzen, gedrängten Zähnen sei wirklich gewesen (auf meinen neuen Verdacht will ich erst später eingehen), so mußte es damit auch wahrscheinlich sein, daß er ein Wärter war, da er sich nach innen bewegte, um mir begegnen zu können, und ein Gefangener doch wohl die Tendenz haben müßte, nach außen zu schleichen, um die Flucht zu versuchen. Eine Tatsache, die wieder meine Position als Wärter in Frage stellen mußte. Natürlich wäre es leicht gewesen – ich muß immer auf diese Möglichkeit zurückkommen –, einfach zu den drei alten Weibern hinauf zu steigen, um die Wahrheit zu erfahren. Ich hätte aufspringen können, um die kurze Strecke – es waren nur einige Meter – bis zur unver-schlossenen Glastüre zu durcheilen, ich hätte diese aufreißen können, um in rasendem Lauf das Gefängnis zu verlassen, gewiß, ich hätte dies tun können, und es war nichts, welches darauf deutete, daß dies unmöglich gewesen wäre: Doch war wieder zu bedenken, daß dann, gesetzt, die drei fetten, schwammigen Scheusale mit den blau geschminkten Lippen, den schmierigen Fingern und den hängenden Wangen hätten mich nicht freigelassen (nicht etwa, daß ich im entferntesten an eine solche Schändlichkeit glaubte), die Wahrheit, ein Gefangener zu sein und nicht ein Wärter, die Hölle bedeuten müßte.
    Denn wer vermöchte dann in diesem Gang zu leben, der sich still im Bauch der Erde verliert, angefüllt mit blauem Licht, welches die wilden Gesichter der Wände bescheint, wo wir kauern müßten, jeder in seiner Nische, Mensch an Mensch gereiht, ohne einander zu erblicken, kaum daß von weither ein Atem uns streift, jeder hoffend, daß er ein Wärter sei und die andern die Gefangenen, daß ihm die Macht zukäme, dort der erste zu sein, wo nur wesenlose Schatten einander gegenüber-sitzen, zu ehernem Kreis gezwungen? Dies war doch wohl undenkbar. So war mir denn der Gedanke tröstlich, daß ich nur dann mein schweres Amt eines Wärters werde zur Zufrieden-heit meiner Vorgesetzten ausüben können, wenn ich ihrer 103

    Versicherung, ich sei frei, unbedingtes Vertrauen entgegen-brachte (wenn auch der Grund dieses Vertrauens – und dies macht die Größe der Stadt aus – nicht Glaube ist, sondern Angst). Doch kam mir an diesem Punkt meiner Überlegungen die entscheidende Idee (die kopernikanische Wendung gleichsam): Ich mußte die Anordnung der Wärter anders denken. Ich mußte …

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    Aus den Papieren eines Wärters
    1952

    Die hinterlassenen Papiere eines Wärters, herausgegeben von einem Hilfsbibliothekar der Stadtbibliothek

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    Ich halte es für nötig, an dieser Stelle beizufügen, daß es nicht etwa ein mystisches Gleichnis ist, das ich hier aufzeichne, eine Art Beschreibung symbolischer Träume

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