Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
und hörte den Geistlichen zu, die sich vor halbgefüllten Bänken bemühten, in den leeren Raum dieser Welt das Licht ihrer Religionen zu gießen.
    Narren, die der Masse jenen Glauben zu schenken hofften, der bei ihnen selbst keine Kraft mehr hatte. Ich sah die Lüge ihres Unglaubens auf ihren Stirnen brennen und ging lachend weiter. Ich spürte die Sekten auf und die wunderlichen Ge-meinschaften, die sich in ärmlichen Stuben versammelten, in Estrichen, wo Spinnweben wie alte Fahnen über ihren Köpfen schwankten und Fledermäuse die Monstranz beschmutzten, in Kellerlöchern, wo sie mit den Ratten ihre stummen Abend-mahle teilten. So war alles, was die Stadt mir bot, von einer grenzenlosen Armut, zugedeckt von der grauen Wasserfläche der Alltäglichkeit, von einem toten Ozean, über den in immer gleichen Kreisen die schwarzen Raben ihrer Wächter flatterten.
    Von ihr mit eisernen Armen umklammert, wurde mein Schicksal immer lächerlicher. Durch den Ekel und den Haß, den mir die Menge auf ihren Plätzen erregte, immer mehr in mein Zimmer zurückgedrängt, begann ich nutzlosen Träumen nachzuhängen, die um so wahnwitziger waren, als ihre Erfüllung in dieser Welt des Alltäglichen unmöglich war. Ich hatte erkannt, daß es nur noch eine Möglichkeit gab, zu leben, ohne schon lebend zu den Toten zu zählen: die Möglichkeit der Macht. Zu schwach, der Gier nach ihr zu entsagen, und zu realistisch, um nicht einzusehen, daß es in der Stadt unmöglich war, je Macht zu bekommen, überließ ich mich verzweifelt wilden Wünschen. Ich sah mich in Gedanken als einen finste-112

    ren Despoten. Bald trieb ich die verhaßte Menge in eine Qual um die andere und starrte in ungeheure Feuerbrände, bald überhäufte ich sie mit Festen und bot ihr blutige Spiele und Orgien. Dann wieder schritt ich zu ungeheuren Eroberungs-kriegen. Ich verfinsterte den Himmel mit meinen Luftflotten und hielt in unhaltbaren Situationen bis zum Untergang schweigend aus. In den Suppenanstalten, in denen ich meine Mahlzeiten einnahm, setzte ich mich abgesondert von den anderen in eine Ecke und löffelte mein Blechgefäß leer, dabei weilte mein Geist bei unermeßlichen Unternehmungen. Ich verließ die menschlichen Gebiete mit Millionen von Arbeits-heeren und machte die Antarktis fruchtbar, bewässerte die Gobi, ja, ich ließ die Erde hinter mir, die ich von mir warf wie die Schale einer genossenen Frucht. Ich wandte mich dem Monde zu, dessen schweigende Lavawüsteneien ich in fanta-stischem Taucherkostüm durchmaß, schwimmend im Licht einer riesenhaften Sonne. Eingeklemmt in den Straßenbahnen träumte ich auf meinen eintönigen Heimfahrten in die Vorstadt von den dampfenden Dschungeln der Venus, unter deren rollenden Gewittern ich meinen Weg durch Saurierherden hindurch nahm, triefend vor Schweiß, oder ich dachte mich angeklammert an das eisige Gestein eines Jupitermonds, dessen runder Schatten über die gigantische rote Scheibe des Planeten raste, der den ganzen Himmel einnahm, ein zäher, wirbliger Brei, ein Ungetüm an Maße und Schwere. O peinliches Erwachen aus meinen Träumen! Der Ekel klebte an meinen Lippen, wenn ich auf die Wirklichkeit der Stadt starrte, auf diese schmutzigen Dächermeere, behängt mit Wäsche, die naß im Winde flatterte, auf die wechselnden Schatten, welche die Wolkenberge auf die menschliche Trostlosigkeit herunter-warfen. Ich verlegte mich aufs Schreiben, zeichnete auf, was ich in meinen Träumen sah, ein Don Quijote, dem nicht einmal mehr ein klappriger Gaul und eine rostige Rüstung zuteil wurde, um gegen die Welt, die ihn umgab, anzukämpfen. Wie 113

    ein Wahnsinniger eilte ich dann durch die Straßen und durch die staubigen Anlagen der kleinen Fabriken, die sich dort ansammelten, zum Fluß hinunter und starrte in das unaufhörlich fließende Wasser. Ich dachte an Selbstmord. Der Gedanke an ein Verbrechen tauchte auf, ich sah mich als Mörder, gehetzt von allen Menschen, ein Raubtier, das, planlos würgend, in verfallenen Kanalisationen lebt. Meine Verzweiflung trieb mich dem Laster in die Arme, die Nächte häuften sich, in denen ich bei Dirnen lag, nackt über die willigen Leiber geduckt, versunken im Genist der Dächer, umgurrt von Tau-ben, die der Schrei meiner Gier weckte. Endlich beschloß ich zu handeln. Ich hatte die Wohnung eines Beamten ausfindig gemacht, der mitten in Kindergeschrei und dem Lärm kleiner Handwerker im Parterre einer dreckigen Mietskaserne wohnte, eine Straße von mir entfernt. Doch lag,

Weitere Kostenlose Bücher