Aus der Asche - Silvanubis #2 (German Edition)
Beinah war sie ein wenig stolz, dass sie es war, die einen Schritt vor den anderen setzte, aus freien Stücken. Egal, was noch auf sie zukommen würde, dieses Mal hatte sie selbst entschieden, hatte das Steuer in die Hand genommen. Zumindest hielt sie das Steuer, wer wusste schon, wer lenkte? Peter würde die anderen schon davon überzeugen, zu warten. Hoffentlich.
Und Alexander? Bei dem Gedanken daran, wie sehr er sich hintergangen fühlen musste, wurde ihr schlecht. Ihr gestriges kurzes, aber heftiges Zusammenkommen schien bereits eine Ewigkeit zurückzuliegen. Alexander würde umkommen vor Sorge und er war der Einzige, der ihren Plan tatsächlich zunichtemachen konnte. Hoffentlich würde es Peter gelingen, ihn zu beruhigen. Anna legte an Tempo zu. Je eher sie die Höhle erreichte, desto eher würde eine Entscheidung fallen. Anna war sich durchaus bewusst, welches Risiko sie einging. Sie war bereit, das Opfer zu bringen, das nötig war, um etwas zu retten, was sie nun vielleicht niemals richtig kennenlernen würde.
Sie zog einen schmalen Lederriemen aus der Hosentasche und band sich die Haare im Nacken zusammen. Ihr war heiß und außerdem hatte sie Durst. Bei ihrem überstürzten Aufbruch heute Nacht hatte sie es versäumt, eine Feldflasche mit Wasser zu füllen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie den Bach erreicht hatte. Ein Grund mehr, das Tempo zu beschleunigen. Wie von selbst setzte sie einen Fuß vor den anderen. Kaum zu glauben, dass sie so genau wusste, wo es langging. Der unsichtbare Faden schien sich vor ihren Füßen stetig zu entrollen. Anna stieg über Wurzeln, umrundete Buchen und Kiefern, schob sich durch Farn und Unterholz. Wahrscheinlich würde sie den Weg auch im Dunkeln finden. Doch sie war froh, dass die Sonne sie vor Steinen oder herunterhängenden Ästen warnte. Es war nicht taghell, doch das Zwielicht des Waldes genügte, um sie nicht stolpern zu lassen. Anna sog die würzige Luft in geradezu unbescheidenen Mengen ein, als sie plötzlich strauchelte.
Das Seil war aus dem Nichts gekommen. Ein leiser Luftzug und die Schlinge fiel über ihren Kopf, zog sich um ihren Hals zusammen. Anna war so überrascht, dass sie den abgebrochenen Ast auf dem Boden übersah, sich beim Fallen schmerzhaft den Knöchel verrenkte und benommen liegen blieb. Eng umschloss die Schlinge ihren Hals, ließ sie nur noch mühsam ein- und ausatmen. Nun ging es also los. Sie hatten sie gefunden. Eher, viel eher, als sie vermutet hatte. Anna schloss die Augen und verbannte die Sekunde der Angst, des Zweifels aus ihrem Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Köpfe mehrerer Zwerge über sich gebeugt.
*
An dem großen, runden Tisch wurde heftig diskutiert, als Peter zusammenfuhr. Augenblicklich verstummte das Stimmengewirr und alle Augen richteten sich auf den alten Mann.
»Sie haben sie. Die Zwerge haben sie geschnappt. Es ist so weit.«
Peters Hals war wie zugeschnürt. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Anna in einer Falle steckte, die jeden Moment zuschnappen würde. Und er allein trug die Schuld daran. Geistesabwesend rieb er mit der Hand über die blasse Narbe auf seinem linken Unterarm. Sie brannte ein wenig.
*
»Aufstehen.« Einer der Wichte zog ungeduldig an dem Seil. Nun bekam Anna gar keine Luft mehr. Reflexmäßig fuhren ihre Hände an die Schlinge und lockerten panisch das Seil. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich hochzustemmen. Ihr linker Fuß pochte unangenehm. Sie musste ordentlich umgeknickt sein, als sie gestürzt war. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht auf ihr rechtes Bein und funkelte ihre Bezwinger zornig an.
»Was soll das?«, fauchte sie. Die Zwerge sollten erst gar nicht auf die Idee kommen, dass sie mit ihrem Auftauchen gerechnet, sogar darauf gewartet hatte. »Ich glaube, Kyra würde es gar nicht gefallen, wenn mir etwas zustoßen würde, bevor sie …« Annas Herz raste und sie geriet ins Stocken. »Sie wartet sicherlich schon auf mich.«
»Keine Sorge, davon stirbst du nicht.«
Anna stutzte. Sie kannte ihr Gegenüber. Jesper. Der kräftige, braun gebrannte Zwerg mit den langen blonden Haaren hatte ihnen vor nicht allzu langer Zeit geholfen, den Wald sicher hinter sich zu lassen; wenn auch nicht ganz freiwillig. Teilnahmslos nahm er das Seil in die Hand und zog. Anna schossen Tränen in die Augen. Würgend versuchte sie, Luft einzusaugen. Erneut fuhren ihre Hände an den Hals, doch dieses Mal wurden ihr die Arme nach hinten gerissen und
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