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Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen

Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen

Titel: Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Mark;Benecke Benecke
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Seite verstehen. Soll man von jedem Toten, auch von Freitoten (Selbstmördern), alle Kleidungsstücke und umgebenden Gegenstände aufbewahren? Wer soll das verwalten und bezahlen, wo gleichzeitig ganze Polizeieinheiten aufgelöst werden?
Der reverse CSI-Effekt
    Dabei wäre die Aufbewahrung auch der Spuren von Freitoten wichtig. Denn hin und wieder ist ein Selbstmord keiner gewesen – doch das fällt erst später auf. Die kriminaltechnischen Spuren sind dann schon längst im Sondermüll verbrannt.
    Es gibt aber viel mehr Freitode, als man es selbst als Kriminalbiologe ahnt. Mehr als eine Million Menschen töten sich weltweit jedes Jahr selbst, und besonders bei jungen Erwachsenen treten Freitode im Vergleich zu anderen Todesursachen häufig auf. Für einen Todesermittler ist ein Freitod also etwas geradezu Alltägliches. Wer also sollte all die Kleidungsstücke und Gegenstände dieser Toten aufbewahren? Schon bei einem eindeutigen Mord wird es schnell eng, sowohl im Büro der polizeilichen Sachbearbeiter als auch bei der Staatsanwaltschaft, die eigentlich riesige Lagerhallen unterhalten müsste, um den Spuren aus vielen Jahrzehnten Herr zu werden. Doch so ist es nicht. Es wird gehaushaltet. Fälle, die abgeschlossen sind, werden ausgemistet, manchmal auch ein wenig zu gründlich. Protokolle darüber gibt es fast nie, zumindest habe ich in Deutschland noch nie eines gesehen. Und was am meisten Platz benötigt – Kleidungsstücke – gelangt oft gar nicht erst in die Aufbewahrungslager, weil die einzelnen Spurenkundler sich »ihre« Spur vorher herausschneiden, mit Folien abziehen oder abfotografieren. Manchmal, wie im Fall P., kann es auch passieren, dass Freunde und Angehörige ihre eigenen Gegenstände oder Erinnerungsstückean das Opfer einfach wieder zurückhaben wollen. Auch das ist verständlich, birgt aber dieselben Tücken. Was, wenn genau dieser Gegenstand später doch wichtig gewesen wäre?
    Die genannten Schwierigkeiten wären alle nicht schlimm, wenn sich nicht hin und wieder falsche Grundannahmen in die Ermittlungen einschleichen würden – beispielsweise, dass nur ein sehr begrenzter Täterkreis schuldig sein kann, oder dass sich jemand selbst getötet haben muss. In diesen Fällen verschwinden Spuren, die niemand für wichtig halten »kann«.
    Hinterher ist man immer schlauer. Doch postmortale Besserwisserei hilft niemandem. Vor allem bringt es die Spuren nicht zurück. Ich nenne das den »reversen CSI-Effekt«: Genau die Spuren, die im Krimi den Fall lösen würden, werden oft wegen falscher Grundannahmen gar nicht erst eingesammelt.
    Die einzige dem Spurenschwund vorbeugende Technik wäre also, mit so wenig Annahmen wie möglich zu arbeiten. Doch das ist leicht gesagt – denn irgendeine Entscheidung muss man ja treffen. Beispiel: In einer Blutspur liegt eine Leiche. Wer soll sich ihr zuerst nähern? Der Rechtsmediziner, um die Verletzungen zu untersuchen? Das kann er oft im Institut für Rechtsmedizin besser. Der Fingerspurenkundler mit seinem Pinsel? Er könnte dabei in die Blutspur treten. Der Faserexperte, um die Kleidung zu untersuchen? Dabei könnte er Hautzellen auf seine Folien übertragen, die für DNA-Tests entscheidend wären. Sie sehen schon, irgendwer muss seinen Kopf hinhalten, sonst geht’s gar nicht vorwärts.
    Den Polizisten geht es ähnlich. Sie müssen irgendwo anfangen, das Knäuel aus Annahmen, Spuren, Beweisen, Aussagen und Erfahrungswerten aufzudröseln. Und das kann eben auch manchmal gründlich schiefgehen. Beispielsweise dann, wenn ein Täter aus einem vollkommen anderen Grund gehandelt hat als der, den sich irgendwer vorstellen kann. Und damit schließt sich der Kreis. Was im Fall P. wirklich schiefgegangen ist, war die falsche Grundannahme, dass es sich im nahen Familienkreis nicht lohnt, Spuren zu suchen, da dort eben jeder eine (gute) Ausrede für seine Spur haben kann. Doch was wäre, wenn – wie Vater P. es sehr gut ausgedrückthat – der Täter nicht aus der Familie kommt, sondern jemand ist, der fast zur Familie gehört hat?
    Und so ist der Fall versandet.
Die alles entscheidende Frage
    Als ich diesen Fall immer wieder mit meinem Team besprach, erkannten wir nach einigen Monaten, dass hier vermutlich Hopfen und Malz verloren waren. Abgesehen von den spurenkundlichen und juristischen Verschleppungen drängte sich eine Frage auf, die vielleicht mehr als alles andere erklärt, warum die verdächtige Person nicht mehr unter Druck steht, aber auch nicht stärker

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