Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
darum, die Unfehlbarkeit von Gerichten zu fordern, sondern um die Bereitschaft, bei eindeutigen und nachweisbaren Fehlern dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, sein Grundrecht auf Menschenwürde und Freizügigkeit erneut einzuklagen.
Dezember 2010
N. N.
Experimente
Damit endet die eindrucksvolle Schilderung aus Sicht des Verurteilten. Sie werden sich nun sicher fragen, warum Herr M., so ganz ohne Motiv und als guter Freund des Toten, seinen Nachbarn umgebracht haben soll.
Sie werden sich auch fragen, wer die Menschen gewesen sind, die er nach Entdeckung der Leiche gesehen haben will. Da das Verfahren derzeit läuft, kann das leider nicht verraten werden.Es handelt sich aber unter anderem um eine Person aus dem Ort, die angeblich hohe Schulden beim Opfer hatte, die allerdings, wie der Verurteilte aussagt, sehr gut mit dem Opfer befreundet gewesen sei.
Damit stünde es eigentlich schon 1:0 für den Verurteilten, denn wenn beide Verdächtigen mit dem Opfer gut befreundet waren, sollte ja die Person »mit« Mordmotiv im Gefängnis sitzen und nicht die Person, die keinen ersichtlichen Grund hatte, den Nachbarn zu töten.
Das war aber dem Gericht egal. Wie Sie der Fallschilderung entnommen haben, entschieden stattdessen die DNA-Spuren. Und so kam ich ins Spiel.
Wir gingen im Labor nach unserer Lieblingsregel vor und schnitten gedanklich alles weg, was überflüssig oder für uns nicht bewertbar war. Das ist eine Abwandlung einer uralten Regel in den Wissenschaften, »Ockhams Rasiermesser« genannt; grob gesagt lautet sie: »Das Einfachste stimmt immer.« Bei diesem Gedankenjäten fiel uns auf, dass es in der Tat eine alles entscheidende Prüfung geben könnte – ob nämlich Herr M. die Leiche überhaupt berührt haben musste, um seine DNA-Spuren auf diese Art zu hinterlassen. Denn, noch einmal, die DNA war für das Gericht das alles entscheidende Indiz. Und das war etwas, das wir prüfen konnten.
Folgendes schien uns elegant zu sein: Was wäre, wenn die Erbsubstanz an den Fingern des Opfers nicht durch direkten Kontakt, sondern durch das »Zeitungslesen« übertragen worden wäre? Immerhin hatte das Opfer ja täglich die benutzten – und damit mit der DNA von Herrn M. zumindest an den Rändern reichlich bedeckten – Zeitungen gelesen.
Wir kauften uns also einen Stapel Zeitungen und legten los. Im ersten Durchgang testeten wir, ob sich überhaupt Erbsubstanz an Zeitungen befindet. Das wurde sofort spannend, denn an einer der Zeitungen im Stapel fanden wir massenhaft DNA, an den anderen überhaupt keine. Irgendwer – vielleicht der Kioskbesitzer – hatte eines der Blätter gelesen und wieder in den Stapel gelegt …
Im zweiten Schritt besorgten wir uns nagelneue, ungelesene Zeitungen direkt aus dem Lieferwagen. Nach einem vorher festgelegten Plan »lasen« wir nun Zeitungen, das heißt, wir blätterten sie verschieden lange durch. Dabei stellte sich zu unserer Überraschung heraus, dass sehr oft zwar DNA beim Lesen von den Fingern auf die Zeitung übertragen wird, aber nur, wenn die Hände ungewaschen sind. Also legten wir ein weiteres Experiment nach, in dem wir uns vor dem Zeitungslesen verschieden lang die Hände wuschen, mal nur mit Wasser, mal mit Seife, mal lang und mal kurz.
Bereits hier erkennen Sie, warum in den zwanzig Jahren, in denen ich meinen Beruf ausübe und versucht habe, Heerscharen von Studierenden dafür zu begeistern, nur drei Studentinnen jemals nachfolgen wollten. Es gibt wohl kaum etwas Langweiligeres, als sich tagelang die Hände nach einem bestimmten Plan zu waschen – beziehungsweise bewusst nicht zu waschen –, sich auf bestimmte Weisen am Kopf zu kratzen, die Finger zu lecken oder über das Gesicht zu streichen, dann die immer gleichen Zeitungen verschieden lang zu »lesen«, sie dann nach einem bestimmten Verfahren weiterzureichen, sie zuletzt mit Wattetupfern abzureiben, alles zu trocknen, genauestens zu beschriften und schließlich genetische Fingerabdrücke davon anzufertigen. Wenn Sie es doch spannend finden sollten, bedenken Sie, dass unsere Klienten kein Geld haben – weder Häftlinge noch die Polizei betreiben Wirtschaftsunternehmen. Falls Sie das alles nicht abschreckt, überlegen Sie, warum Sie einen anderen Beruf ausüben. Wir könnten Sie brauchen.
Doch zurück zum Experiment. Als wir die genetischen Fingerabdrücke näher ansahen, fiel uns etwas Merkwürdiges auf: Zwar hatte sich in mehreren Fällen meine Erbsubstanz über das Zeitungslesen auf die Finger
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