Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
Schwager zu Hause sein muss. Er holt sich den Schlüssel zur Waschküche aus dem alten Kuhstall, schließt die Waschküchentür auf, betritt die Waschküche und klettert dann – indem er sich einen Stuhl ans Fenster heranzieht – hinein in den Fluranbau und von dort in den Flur.
Nun sieht er, dass die Tür zum Treppenaufgang in die Wohnung aufgebrochen ist, sieht den Schirmständer umgeworfen und ruft tief beunruhigt laut: »Herbert!« Als er keine Antwort bekommt, geht er vor Aufregung schweißgebadet die Treppe hoch, kommt im oberen Flur an, sieht dort alle Türen offen stehen (Badezimmertür, Küchentür, Esszimmertür) und geht schließlich durchs Esszimmer ins Wohnzimmer.
Dort sieht er seinen Schwager in Seitenlage – mit dem Rücken zur Wand – auf dem Sofa in einer Blutlache liegen. Kopf und Oberkörper sind mit einem großen Kopfkissen abgedeckt. Vor dem Sofa liegen in Längsrichtung zum Sofa zwei Kothaufen im Abstand von dreißig bis vierzig Zentimeter nebeneinander. Daneben liegt eine Urinflasche, in der Urin enthalten ist. Dann sieht Herr M., dass sein Schwager an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt ist. Er sieht, dass er noch Strümpfe und Pantoffeln anhat. Die Wohnzimmereinrichtung ist völlig durcheinander. Schubladen stehen auf. Der Inhalt vieler Schubladen liegt herum.
In dem Augenblick, als er seinen Schwager so liegen sieht, weiß er noch nicht, ob dieser tot ist. Er fasst ihn also an und will sehen, ob es noch Lebenszeichen gibt. Wenn er noch gelebt hätte, hätte er mit Sicherheit Hilfe geholt. Nachdem er ihn aber mit seiner Hand an den Fingern angefasst hat, wird er sich bewusst, dass sein Schwager tot ist. Und er erinnert sich noch an den inneren Impuls: »Weg, nichts wie weg! Ich will mit dem Mord nichts zu tun haben.«
Und dann setzt die Erinnerung aus, etwa dreißig bis vierzig Minuten lang.
Herr M. kommt in der Scheune wieder zu klarem Bewusstsein. Er kann nicht einmal sagen, wie er dorthin gelangt ist: Ist er über den Hof gegangen oder wieder durch die Waschküche? Er weiß, dass er völlig sinnloserweise die Zeitung wieder mitgenommen hat. Oder war es doch nicht so sinnlos, weil er einen kurzen Moment gedacht hat: Die werden mich vielleicht verdächtigen, wenn sie die Zeitung von mir dort finden?
Könnte es vielleicht sogar sein, dass die Kombizange, die er als die seine identifiziert hat, noch am Tatort lag und er sie aus demgleichen Grund mitgenommen hat? Das muss Spekulation bleiben. Was aber sicher ist: Er ist in der Scheune mit sich allein, er heult sich dort aus, er ist voller Traurigkeit, dass sein Schwager, mit dem er schon so lange verbunden ist, tot ist. Und gleichzeitig versucht er zu überlegen, was zu tun ist.
Der Impuls ist da, noch einmal hinüberzugehen. Er macht die Schiebetür zum Haus seines Schwagers langsam ein Stück auf und sieht durch den Spalt zu dem verglasten Fluranbau hinüber. Dort sind Leute. Er erkennt sie nicht. Er muss wohl vermuten, dass es die Polizei ist. Wie sind die denn hineingekommen? Erinnerungen kommen hoch: an Auseinandersetzungen, die sein Schwager mit bestimmten Personen aus dem Ort hatte. Da ging es auch um Geld und Schuldschein und die Verpflichtung, Geld zurückzuzahlen. Er fasst einen verhängnisvollen Entschluss: Keiner – nicht einmal seine Frau – soll erfahren, was er erlebt hat. Er will sich aus der Sache heraushalten.
Ein wirklich verhängnisvoller Entschluss. Hier wären Traumapsychologen zu befragen. Wie verhalten sich Menschen, wenn sie aus heiterem Himmel mit einem Schockerlebnis konfrontiert sind? Ich meine, logisch-konsistentes Verhalten kann man hier vergessen. Kleinste Gedanken- und Erinnerungssplitter können das weitere Verhalten bestimmen. Es muss eine Kombination von äußerster Lähmung – »ich kann eigentlich gar nichts tun, gar nichts klar entscheiden, kann mich nirgendwo mit dem Erlebten entlasten« – und absoluter Handlungsanforderung – »ich muss handeln, ich muss damit umgehen« – sein. Es ist eine Situation, die sich niemand im Voraus vorstellen kann. Und für einen Menschen, der nie mit der Justiz zu tun gehabt hat, der keine Krimis liest oder anschaut, der aber einen Sinn für harmonisches bürgerliches Leben hat, ist eine solche Situation schlicht unvorstellbar. Ich halte sein Handeln für menschlich nachvollziehbar. Man kann es mit dem Wort »Flucht« umschreiben. Es ist aber eine Flucht, die nicht gelingen kann. Denn Geist und Körper können wir nicht täuschen. Das
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