Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
sich auffällig voneinander unterschieden.
Unter den Persönlichkeiten, die in seinem Körper lebten, waren Frauen und Männer, Erwachsene und Kinder. Sie sprachen mit Sprachfärbungen, die in bestimmten Gegenden häufig sind und die normalerweise niemals zusammen bei einem Menschen oder in einer Gegend vorkommen. Eine der Frauen, die er vergewaltigt hatte, sagte beispielsweise aus, der Vergewaltiger habe wie ein Ausländer gesprochen.
Beeindruckend war auch, dass die verschiedenen Persönlichkeiten sehr unterschiedliche Fähigkeiten hatten. Einige konnten sehr gut malen, andere spielten unterschiedliche Instrumente, hatten Kenntnisse über Physik, Chemie und Elektronik oder konnten arabisch lesen und schreiben. Das alles war für jemanden mit Milligans schlechter Schulbildung erstaunlich. Eine seiner Persönlichkeiten war Rechtshänder, obwohl Milligan nachweislich Linkshänder war.
Jede der Persönlichkeiten hatte nicht nur unterschiedliche Fähigkeiten und Sprechweisen, sondern sie alle sahen auch sehr unterschiedlich aus und hatten unterschiedliche Erinnerungen und Lebensgeschichten. Milligan malte später viele der Persönlichkeiten während einer Therapie. Unter den insgesamt vierundzwanzig Menschen, die seinen Körper bewohnten, waren ein zweiundzwanzigjähriger, gebildeter Engländer; eine wütende, neunzehnjährigeFrau mit Bostoner Sprachfärbung; ein ängstlicher vierzehnjähriger Junge und ein dreijähriges englisches Mädchen.
Ein Psychiater bestätigte dem Gericht, dass nicht Billy Milligan sondern zwei seiner anderen Persönlichkeiten an den Vergewaltigungen beteiligt waren. Die Persönlichkeit eines dreiundzwanzigjährigen Jugoslawen namens Ragen habe das erste Opfer ausrauben wollen. Ragen sei ein krimineller und gewalttätiger Waffen- und Munitionsexperte, der Kontakte zu anderen Kriminellen pflegte. Als Ragen die erste Frau mit der Waffe bedrohte, habe die Persönlichkeit einer neunzehnjährigen lesbischen Frau namens Adalana die Handlung übernommen. Sie habe sich nach Nähe gesehnt und deshalb diese Frau und die anderen beiden Opfer einige Tage später vergewaltigt.
Die verschiedenen Persönlichkeiten von Milligan traten während der Verhandlung immer wieder auf, sodass auch die zunächst misstrauischen Staatsanwälte und der Richter die erstaunlichen Wandlungen miterlebten. Milligans Stimme, seine Aussprache, seine Körperhaltung, Bewegung und sein Gesichtsausdruck veränderten sich von Person zu Person nachhaltig.
Psychiater, Staatsanwälte und Richter waren sich schließlich einig, dass das beeindruckende Spektakel alle schauspielerischen Leistungen überstieg, die sie jemals im Gerichtssaal miterlebt hatten. Daher hielten sie Milligans Verhalten für einen wirklichen Ausdruck seiner seelischen Vorgänge. Milligan wurde für schuldunfähig erklärt und in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Er wurde zehn Jahre lang in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen behandelt.
In all den Jahren sprachen viele der Personen aus seinem Inneren immer wieder mit den behandelnden Therapeuten. Jede auftretende Person behielt ihre typischen Eigenschaften bei. Das spricht dafür, dass Milligan tatsächlich in diese Menschen gespalten war. Dass es jemandem gelingt, zehn Jahre lang so viele Rollen fehlerlos zu spielen, ist mehr als unwahrscheinlich. Die meisten Verbrecher, die psychische Auffälligkeiten vortäuschen, hören spätestens nach der Gerichtsverhandlung damit auf, weiles ihnen keine weiteren Vorteile bringt und auf Dauer auch zu anstrengend ist.
Während Milligans Therapie tauchte eine Persönlichkeit auf, die sich »der Lehrer« nannte. In ihm flossen die Fähigkeiten und Erinnerungen der anderen Persönlichkeiten zusammen. Mithilfe dieser Person lernte Milligan, sein Verhalten und sein Bewusstsein immer besser zu kontrollieren. 1988, nach fast elf Jahren Behandlung, trafen Psychiater die Entscheidung, dass Milligan inzwischen seine Persönlichkeiten in einer Person vereinigt hatte und keine Gefahr mehr darstellte. In den folgenden drei Jahren, die er auf Bewährung freigelassen wurde, beging er keine Straftaten. Soweit bekannt ist, wurde er nie wieder straffällig. Inzwischen lebt er an einem unbekannten Ort.
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Im November 2000 tötete die damals zweiundzwanzigjährige Daniela K. mit ihrem Verlobten ihre Mutter und deren dritten Ehemann. Die beiden planten die Tat, kündigten einen Nachmittagsbesuch an, auf den
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